Acid House antik

Die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Mutterkorns  ■ Von Mathias Bröckers

Das Mysterium von Eleusis war das bestgehütete Geheimnis der Antike. Jedes Jahr, fast zwei Jahrtausende lang, zogen Wallfahrer auf der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, fasteten und umtanzten den der Göttin Demeter geweihten Brunnen im Vorhof des Heiligtums. Die Nacht verbrachten sie in der Mysterienhalle, einem großen fensterlosen Saal. Priester bereiteten einen „heiligen Trank“, den die Teilnehmer gemeinsam zu sich nahmen — und dann geschah es. Eine so unmittelbare und unaussprechliche Erfahrung, daß sie nur „geschaut“, aber nicht ausgesprochen werden durfte — bei strengen Strafen war es verboten, über das Erlebte zu berichten. Über zwei Jahrtausende haben sich die in Eleusis Initiierten daran gehalten, etwa die Philosophen Sokrates, Platon oder Aristoteles, der Tragödienautor Sophokles — alle waren sie nach Eleusis gepilgert. Sophokles schreibt: „Dreifach glücklich sind jene unter den Sterblichen, die, nachdem sie diese Riten gesehen, zum Hades schreiten; ihnen allein ist dort wahres Leben vergönnt.“

Ehrfurchtgebietende, dunkle Äußerungen wie diese liegen in großer Zahl vor, doch was sie rechtfertigte, welche Offenbarung die Teilnehmer derart überwältigte, daß sie selbst den Tod für überwunden glaubten — dieses Geheimnis blieb auch nach dem Niedergang der athenischen Kultur im 4.Jahrundert verborgen. Hunderte von Büchern über die Mythologie Griechenlands wurden seitdem geschrieben, zahlreiche Abhandlungen über die eminente Bedeutung des Ritus von Eleusis verfaßt — doch was im Zentrum dieses Mysteriums stand, blieb bis in unsere Tage ein Rätsel. Erst Ende der 70er Jahre gelang es in interdisziplinärer Zusammenarbeit, das Geheimnis zu lüften: Der Ethnobotaniker Gordon Wasson, der Chemiker Albert Hoffmann und der Altertumsforscher Carl Ruck identifizierten den „heiligen Trank“ als Zubereitung eines halluzinogenen Pilzes, des „Claviceps purpurea“, der im deutschen „Mutterkorn“ genannt wird und als Parasit auf der Gerste und anderen Getreidearten wächst. Der Pilz enthält die Wirkstoffe des LSD, des stärksten bekannten Halluzinogens, das Albert Hoffmann 1943 zufällig entdeckte, als er mit Bestandteilen des Mutterkorns experimentierte, die schon von den Medizinern des Altertums als Medikament zur Geburtshilfe verwendet wurden. In ihrem Buch Der Weg nach Eleusis weisen die Autoren nicht nur nach, daß die gewaltige visionäre Wirkkraft des „heiligen Tranks“ in Eleusis auf das Mutterkorn zurückzuführen ist, sie belegen auch, wie eng dieser Pilz mit dem Mythos der Demeter, der Erdgöttin verflochten ist.

„Jedes Jahr wandelten neue Kandidaten für die Initiation auf jener Heiligen Straße nach Eleusis, Menschen aller Klassen, Herrscher und Prostituierte, Sklaven und Freie. Jeder Schritt auf dem Weg erinnerte an den Aspekt eines alten Mythos, der erzählte, wie die Erdmutter, die Göttin Demeter ihre einzige Tochter verloren hatte, die beim Blumenpflücken von ihrem Bräutigam, dem Herrn des Todes, geraubt worden war. Wenn die Pilger in Eleusis ankamen, tanzten sie bis tief in die Nacht bei dem Brunnen, an dem Demeter um ihre verlorene Persephone geweint hatte. Sie tanzten zu Ehren dieser beiden Göttinen und ihres geheimnisvollen Gatten Dionysos. Dann durchschritten sie die Tore in den Festungsmauern, hinter denen, abgeschirmt von profanen Blicken, das große Mysterium von Eleusis stattfand. Die antiken Schriftsteller geben einmütig an, daß im großen „Telestrion“, der Initiationshalle im Inneren des Heiligtums, etwas zu sehen war. Soviel durften sie immerhin sagen. Die Halle war jedoch, wie man heute anhand archäologischer Reste rekonstruieren kann, völlig ungeeignet für Theateraufführungen. Was man dort zu sehen bekam, war kein Spiel von Schauspielern, sondern, in Platons Worten, „phantasmata“, eine Reihe geisterhafter Erscheinungen. Selbst ein Dichter konnte nur sagen, er habe den „Beginn und das Ende des Lebens gesehen und erkannt, daß sie eins seien“.

Ähnlich ehrfürchtiges Stammeln erlebte Gordon Wasson in den 50er Jahren, als er die religiösen Rituale mexikanischer Indianer erforschte. Im Mittelpunkt ihres Kults steht die Einnahme eines als heilig verehrten Pilzes, dessen halluzinogener Wirkstoff Psilocybin eng mit denen des Mutterkorns verwandt ist. Ähnlich wie das Meskalin des Peyote-Kaktus, den andere mexikanische Stämme als sakrale Droge verwenden, oder der Wirkstoff des Fliegenpilzes, der „Götterspeise“ der Priester-Schamanen in Sibirien. Die übereinstimmenden Berichte, auf die der Pilz-Ethnologe Wasson bei diesen Völkern stieß — der Pilz als „Draht“ zur Kommunikation mit dem Übernatürlichen — ließen ihn schon damals vermuten, daß auch das klassische Griechenland in seiner rituellen Festung Eleusis Halluzinogene verwandte. Doch die Altertumsforscher, die er daraufhin ansprach, taten seine Vermutung als völligen Unsinn ab. Das „Gesehene“ hielten sie für kultische Gegenstände, den „heiligen Trank“ für Wein.

Diese Einschätzung wird von den Autoren des Bandes eindeutig widerlegt. Zuhilfe kam ihnen dabei ein öffentlicher Skandal im Athen des 5. Jahrhunderts, von dem in einer fragmentarisch erhaltenen Komödie die Rede ist: Das eleusische Geheimnis war profanisiert worden, aristokratische Bürger hatten ihren Gästen den visionären Trank als Partyvergnügen angeboten und mußten sich dafür vor Gericht verantworten. Neben dieser antiken Acid-House-Party ist es aber vor allem die Bedeutungsstruktur des Demeter-Mythos, die in der Beweisführung der Autoren besticht. Es sind keine einfachen Blumen, die Persephone pflückt, als sie ins Reich der Toten entführt wird, es ist der hundertköpfige Narkissos, eine Drogenpflanze.

„Es besteht kein Zweifel daran, daß es sich beim Raub der Persephone um einen drogeninduzierten Anfall handelt. Dieser Umstand ist von den Altertumsforschern nie beachtet worden, obschon er aufgrund unseres Wissens über die Religionen der vorgriechischen Ackerbauvölker absolut zu erwarten ist. Das Zentrum dieser Religionen war der Zyklus von Tod und Wiedergeburt in der Pflanzen- und Menschenwelt. Die Frau war die Große Mutter und die ganze Welt ihr Kind. Das grundlegende Ereignis in diesen Religionen war die Heilige Hochzeit, durch welche die Priesterin mit dem Geisterreich im Inneren der Erde kommunizierte, um den Neubeginn des Ackerbaujahrs, des Lebens, zu bewirken. Ihr Gegenstück war ein Vegetationsgeist; er war sowohl ihr auf der Erde wachsender Sohn als auch der Gemahl, der sie in die befruchtende andere Welt entführte. Unter dem Namen Dionysos überlebte der als Gatte der Muttergöttin assimilierte Zeus bis in die klassische Periode hinein.“

Nicht der dionysische Wein, der psychedelische Gerstentrank der Erdgöttin Demeter stand im Zentrum der griechischen Natur-Religion — dieser Befund des Buchs stempelt nahezu die gesamte Fachliteratur über Eleusis wenn nicht zur Makulatur, so doch auf das Niveau von Theorien etwa über das Flughafenwesen, denen völlig verborgen geblieben ist, daß der Zweck dieser Einrichtungen im Reisen besteht. Eleusis war ein zwei Jahrtausende währender Acid- Test, gegen den die Massentrips der Hippiekultur in den 60er Jahren wie eine schwache Wiederkehr des Verdrängten wirken: Wochenlange Vorbereitung und eine vermutlich hohe Dosierung garantierten den Pilgern eine Erfahrung, die sie weit über die Ränder ihrer Person, ihrer Identität, ihres Realitätstunnels hinausbrachte. Wie im 5.Jahrundert die Verabreichung von LSD-Häppchen als Partyspaß vom Niedergang dieser Kultur zeugte — eine neue Sekte, die mit Wein operierenden orthodoxen Christen, hatte die eleusische Naturreligion verdrängt — sind die Acid-Discos der 90er die Profanisierung der in Set und Setting eingebundenen LSD-Erfahrungen der Hippiekultur. „Man kann heute sterben und anschließend in die Disco“, hatte der Berliner Sokrates (und weitgereiste Eleusis-Jünger) Wolfgang Neuss in den 70ern die Reihenfolge noch festgelegt — mittlerweile strebt die Jugend gleich dem einfachen Fun zu. Sich der Anstrengung des dreifachen Glücks — den Körper zu verlassen, den Schrecken des Hades, des Todes zu erfahren und zu überwinden — sich solchen Selbstvergessenheits- Erfahrungstrips zu unterziehen, macht sich keiner die Mühe mehr.

Daß Eleusis nicht als kollektiver Horrortrip in die Geschichte eingegangen ist, sondern als fundamentales Erleuchtungs-Erlebnis der abendländischen Kultur, verdankt sich der intensiven Einstimmung und Vorbereitung aller Teilnehmer. Eine Bedingung, die noch in der Kurzformel des Harvard-Psychologen und LSD-„Papsts“ Timothy Leary am Anfang steht: Tune In, Turn On, Drop Out. Dies konnte indessen nichts daran ändern, daß LSD Anfang der 60er Jahre auf den Index der verbotenen Drogen gesetzt wurde. Die damit verbundene Horrorpropaganda hat dazu geführt, daß die wissenschaftliche Erforschung von LSD als Therapeutikum bis heute erschwert und behindert wird, nicht zuletzt dadurch, daß der Eleusis- Trank bei den ausgiebigen militärischen Tests (als Wahrheitsdroge, Gehirnwaschmittel, Chemiewaffe zur Auslösung von Massenpsychosen) als strategisch unkalkulierbar durchgefallen war.

Nur auf den ersten Blick scheint die Fundierung der griechischen Kultur in einer mystischen Drogenerfahrung als mittlerer Skandal, genauer betrachtet räumt dieses Buch dem LSD-Mysterium von Eleusis gar keine Sonderstellung ein. Im Gegenteil: Es verbindet die Kulturgeschichte des Abendlandes mit der Religionsgeschichte anderer Erdteile. Überall auf der Welt haben die Völker für den Blick über den Zaun von Raumzeit und Sterblichkeit auf die Hilfe der Pflanzen zurückgegriffen, die heiligen Pilze.

Gordon Wasson, Albert Hofmann, Carl A. P. Ruck: „Der Weg nach Eleusis“ — Das Geheimnis der Mysterien, Insel Verlag 1990, 185 Seiten, 12 Mark