Die IG BCE geht voran: Weniger Lohn für weniger Arbeit

Die IG BCE hat den Anfang gemacht. Sind die deutschen Gewerkschaften endlich bereit für den Wandel?

Bild: dpa

Von UDO KNAPP

Es ist „unser Anspruch als Sozialpartner Innovationsführer im Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen zu sein“, sagte unlängst Ralf Sikorski, das ist der Tarifvorstand der Gewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE). Er klang richtig stolz. Ihm ist es gelungen für hunderttausende Beschäftigte über die in der Regel nicht ausreichenden Leistungen der staatlichen Pflegeversicherung hinaus eine zusätzliche Absicherung gegen ihr Pflegerisiko tarifvertraglich fest zu vereinbaren, ohne dass die Arbeitnehmer dafür einen Cent selber dazu bezahlen oder eine zusätzliche Gesundheitsprüfung durchlaufen müssen. Die Unternehmer bezahlen dafür für jeden ihrer Beschäftigten monatlich 33.65 Euro. Wesentlich: Dieser Betrag wurde verrechnet mit der regulären Lohnerhöhung, die anstand. Das bedeutet: Soziale Absicherung statt Lohnerhöhung. Zusätzlich können die Beschäftigten ihren Pflegeschutz individuell erhöhen und auch noch ihre Angehörigen mit versichern.

Die Leute werden immer älter, der Altenanteil an der Gesamtbevölkerung wird bis in die 2040er Jahre hinein immer höher, die Pflegekosten in der stationären Pflege steigen, die jetzt schon zwischen 4.000 und 5.000 Euro pro Monat mit einem Eigenanteil von durchschnittlich 2.000 Euro liegen.

Vor dem Hintergrund dieser demographischen Entwicklung erstaunt es nicht, dass die IG BCE ihr traditionelles Feld der reinen Lohnpolitik verlässt. Sie übernimmt jetzt in sozialer Partnerschaft mit den Unternehmern, durchaus kämpferisch und erfolgreich, Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Sikorskis Abschluss verdient es, in allen Tarifvertragsbereichen durchgesetzt zu werden und es ist ihm zuzustimmen, von einem „neuen Kapitel der Tarifpolitik“ spricht. Denn auch die Gewerkschaften müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Kosten der  Digitalisierung, der Ökologisierung der modernen Industrien und des Klimawandels, sowie der damit verbundene radikale gesellschaftliche Wandel, vor allem von den traditionell als „Arbeiter“ bezeichneten Leuten mit Einbußen und Beschränkungen ihres erreichten Lebensstandards und Lebensstils bezahlt werden wird und muss. Arbeitsplatzverluste in den weniger qualifizierten Segmenten in hohem Umfang, reale Lohnsenkungen bei steigenden Lebenshaltungskosten vom Wohnen bis zur Gesundheit und der Mobilität für alle Lohnabhängigen und stagnierende Renten stehen auf der Tagesordnung.

Erneuerte, effizientere, soziale und technische Infrastrukturen

Die Vorstellung ist naiv, dieser Strukturwandel zur digitalen und ökologischen Wirtschaft des nächsten Jahrhunderts ließe sich für diese „Arbeiter“ allein mit traditioneller Tarifpolitik und immer höheren Löhnen organisieren. Für viele Arbeitnehmer wird es, da helfen diese populistischen, antidemokratischen und autoritären Parolen des „Weiter so wie immer“ überhaupt nicht, zu realen Einkommensverlusten kommen. Diese Einkommensverluste können nicht durch immer höhere Transferleistungen aus den öffentlichen Haushalten ausgeglichen werden, wie es von vielen Sozialdemokraten und der Linken marktschreierisch gefordert wird.

Was deshalb ansteht ist die intelligente Stärkung des sozialen Zusammenhaltes in der ganzen Gesellschaft durch erneuerte, effizientere, soziale und technische Infrastrukturen. Dazu gehört die Stärkung der Bereitschaft aller Bürger, durch höhere Abgaben oder Rücklagen, durch Konsumverzicht, die eigene Sicherheit im Wandel zu erhöhen und zugleich an der Ökologisierung und Digitalisierung aktiv mit zu wirken. Die IG BCE und ihr Tarifchef Sikorski haben diese historische Botschaft offensichtlich verstanden.

Sie wissen, dass die Gewerkschaften mit einer aktiv genutzten Sozialpartnerschaft jenseits der banalen Tarifpolitik ein Instrument in der Hand haben, den ökologischen und digitalen Wandel im Interesse ihrer Millionen Mitglieder mit zu gestalten. Sie sind offensichtlich nicht mehr allein.

Unions on the move

Frank Bsirske, der kampfstarke ehemalige Verdi-Chef, will für die Grünen im nächsten Jahr in den Bundestag. Und das ausgerechnet in Wolfsburg, als Autostadt ein Zentrum zukünftiger Arbeitsplatzverluste. Gegen die SPD. Bsirske könnte ein neues Bündnis zwischen Klimapolitik und Gewerkschaften symbolisieren.

Im DGB-Bundesvorstand und im Vorstand bei Mercedes wird offen nachgedacht über eine Viertagewoche ohne Lohnausgleich, aber in einer engen Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften bei der Ausgestaltung anderer sozialer Sicherungssysteme im Wandel. Damit werden Perspektiven für die Arbeitnehmer jenseits der aus meiner Sicht idealisierten, lebensfremden Debatten um ein Grundeinkommen angedeutet, die das „Arbeiten“ als zentralen, den Menschen in die Gesellschaft integrierenden Lebensinhalt nicht einfach aufgeben wollen.

„Unions on the move“ – ist nach dem Ergrünen vieler Unternehmen in Deutschland das Ergrünen der Gewerkschaften unterwegs? Nun ja: Statt die Vorlage der IG BCE aufzugreifen, schreit die ÖTV in den aktuellen Tarifverhandlungen trotz der wachsenden Corona-Schulden der öffentlichen Haushalte  wieder nur nach mehr Geld für die öffentlichen Bediensteten. Das ist nicht nachvollziehbar. Es ist einfach nur von gestern.

UDO KNAPP ist Politologe.

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