Gastbeitrag zu Europas Grenzregime: 2015 muss sich wiederholen!

Ein neues 2015 wäre die letzte Chance für Hunderttausende – und Friedenspolitik in Syrien.

Geflüchtete kommen auf der griechischen Insel Lesbos an Bild: dpa

Ein Gastbeitrag von MARIO NEUMANN

Während man Menschen in den Lagern auf den griechischen Inseln oder in Libyen regelrecht verrotten lässt, während auf Lesbos Kinder mit Krätze und Rattenbissen bei den wenigen lokalen Ärzten auflaufen, während Griechenland das Menschenrecht auf Asyl aussetzt, heißt es vielerorts nur: „2015 darf sich nicht wiederholen“. Erinnern wir uns also kurz, was das heißen würde:

Hunderttausende Menschen stürzten im Sommer 2015 Europas Grenzregime und setzen den Mechanismus der oftmals tödlichen Migrationskontrolle außer Kraft. Migrantische Märsche – zum Beispiel der legendäre March of Hope – entfalteten einen so großen Druck, dass das Dublin-System zusammenbrach und sich so letztlich Unzählige ein neues Leben in einem neuen Land erkämpften.

Selbst „welt“-Redakteur Robin Alexander sprach, wenn auch abwertend, von der Bundesregierung dieser Monate als „die Getriebenen“ und meinte damit, dass sie sich dem Druck der migrantischen Forderungen und der Solidaritätsbewegung beugen musste.

Dieser politische Erfolg – das muss stets betont werden – brachte zwar die Ordnung der Migrationspolitik durcheinander, war aber gleichzeitig eine menschenrechtliche Bewegung im besten Sinne: Eine Bewegung der Migration, die praktisch das Menschenrecht auf Asyl und auf ein Leben in Würde gegen Europas Zäune (die symbolisch für die globale Ungerechtigkeit stehen wie wenige Dinge sonst) durchsetzte. So etwas Schönes habe ich lange nicht mehr gesehen!

Was ist seit 2015 geschehen?

Doch heute stehen griechische Nazis neben der Polizei an Europas Grenze und schießen gemeinsam auf Flüchtlinge. Was ist geschehen?

Im Jahr 2015 wurden Menschen auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit mit offenen Armen empfangen, viele Alteingesessene öffneten ihre Wohnzimmer und manche auch ihre Herzen. Neue Freundschaften und Liebschaften entstanden und die Gesellschaft öffnete sich auch für die Geschichten über den syrischen Bürgerkrieg, den Terror in Afghanistan und andere Schicksale.

Selbst Wolfgang Schäuble sprach damals von einem „Rendezvous mit der Realität der Globalisierung“. Natürlich gab es Unordnung, was sonst? Ein Rendezvous ist kein Taschenrechner. Und dennoch: Insgesamt 25% der Bevölkerung in Deutschland haben zwischen 2015 und 2018 aktive Flüchtlingshilfe geleistet, aus dem staatlichen Teilversagen wurde eine lebendige demokratische Praxis.

Aus staatlichem Teilversagen wurde lebendige Praxis

Es war eine Zeit, in der man etwas Großartiges spürte, etwas das in Deutschland sehr selten ist: Die Gesellschaft wurde nicht nur von oben, von Behörden organisiert, sondern sie verfügte über die soziale Macht und die Freiheit, sich selbst zu gestalten, sie suchte nach eigenen Wegen und wurde sich ihrer Möglichkeiten bewusst, der Möglichkeiten der Solidarität.

Doch dann sind beinahe alle politischen Akteur*innen eingeknickt – unter dem Druck von rechts. Die Helfenden wurden im Stich und die Flüchtlinge in größtmöglicher Unsicherheit gelassen, das Asylrecht verschärft und Angst gesät.

Die Stärkung einer Zivilgesellschaft, einer Gesellschaft der Vielen, die teilt und offen ist, wurde verpasst. Die AfD und Pegida hingegen entstanden nicht, wie so oft behauptet, als Reaktion auf die Ereignisse im Jahr 2015 – ihre Zeit begann schon viel früher, spätestens seit Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ aus dem Jahr 2010 war das offenkundig.

Nicht die Migrant*innen sind am Rassismus schuld

Natürlich sind Migrationsbewegungen immer ein Mobilisierungspotential für die Rechten. Doch Rassismus lässt sich nicht auf die Migrant*innen zurückführen, ebenso wenig wie Jüdinnen und Juden die Schuld am Antisemitismus tragen.

Doch Europas Regierungen handelten in genau dieser Logik.

Um den Aufstieg der Rechten zu stoppen, bekämpften sie Migrant*innen. Das setzte nicht nur rechte Forderungen in staatliche Politik um, sondern geriet zu einer Aufforderung an die extreme Rechte, selbst zur Tat zu schreiten. Und die autoritäre Migrationspolitik der letzten Jahre hat am Zustand der Welt nichts verändert, sie hat ihn sogar verschlimmert.

„2015 darf sich nicht wiederholen“ ist so gesehen eine Position, die gar nichts an irgendeinem Leid verändern will, sondern schlicht dafür plädiert, es aus dem eigenen Blickfeld zu verbannen, es erneut auszusperren: Die drohende Unordnung einer erneuten Aufnahmebereitschaft wird heute zum Argument gegen die Solidarität mit Menschen in Not.

Darin steckt die Vorstellung, dass nur eine vorausschauende Ordnungspolitik eine wirkliche Antwort auf politische Fragen sein kann. Ein Sprung ins Offene, vielleicht auch ins Unkontrollierbare, Unberechenbare ist nicht denkbar. Doch das Neue ist der Kern von jeder Veränderung, die mehr ist als bloße Verbesserung des status quo.

Die Politik des Aussperrens hat alles verschlimmert

Und 2015 hat gezeigt, dass es letztlich keinen Grund für die panische Angst vor diesen Prozessen gibt, dass sie Menschenrechte, Demokratie und Solidarität erneuern. 

Die darauffolgende Politik des Aussperrens hat alles nur verschlimmert: die Hölle von Moria, Evros, Idlib, der Krieg gegen Rojava. Der politische Zynismus, mit dem 2016 der EU-Türkei-Deal geschmiedet und die regionale Krise beantwortet wurde, rächt sich heute mehrfach.

Anstatt die großen geopolitischen Katastrophen und das millionenfache Leid politisch zu bearbeiten, hat sich die EU freizukaufen versucht und Erdogans Türkei in eine Situation gebracht, in der Flüchtlinge zum geopolitischen Druckmittel wurden. Die türkische Grenzöffnung nach Griechenland ist nicht zuletzt ein perfides Druckmittel Richtung Europa und NATO, in die militärische Eskalation um das syrische Idlib zu Gunsten der Türkei einzugreifen.

Doch anstatt endlich Aufnahmegarantien in Europa zu geben und diesem Spiel ein Ende zu setzen, setzt Europa seinen politischen Opportunismus fort, jetzt auch mit Schüssen auf Hilfesuchende. Europas Versuche, sich die Welt mit politischen Deals vom Hals zu halten, sind gescheitert.

Die letzte Chance einer Friedenspolitik in Syrien

Wenn die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland jetzt den Titel „Schild Europas“ verpasst, dann ist das nicht nur Ausdruck eines sich steigernden autoritären Zynismus, sondern deutet auch an, dass die Krise in einen neuen Deal mit Erdogan verschleppt werden soll.

Doch die Flüchtlinge an der türkischen Grenze, selbst wenn sie als Spielball missbraucht wurden, repräsentieren nicht nur individuelle Wünsche nach einem besseren Leben. Sie sind ein politischer und sozialer Faktor, der sich schlicht nicht ignorieren lässt.

Wieder einmal verdichten sich die geopolitischen Auseinandersetzung in den Kämpfen an der Grenze. Hoffen wir, dass sich darin die Idee von 2015 auf die eine oder andere Weise wiederholt – davon hängt nicht nur die Zukunftsperspektive von Hunderttausenden Menschen ab, sondern auch die vielleicht letzte Chance einer Friedenspolitik in Syrien.

Mario Neumann arbeitet bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international in der Öffentlichkeitsarbeit