Karen Holzinger über Obdachlosigkeit: „Wir schwimmen auf einer Welle“

Mit „Housing First Berlin“ wird ein neuer Ansatz in der Obdachlosenhilfe getestet. Karen Holzinger über das Projekt und neue Wege aus der Obdachlosigkeit.

Der enge Wohnungsmarkt rückt Wohnungs­losigkeit in den Vordergrund Bild: Taylan Gökalp/dpa

taz: Mit „Housing First Berlin“ wird nun im zweiten Jahr ein für Deutschland neuer Ansatz in der Obdachlosenhilfe getestet. In dem Projekt bekommen langjährig Obdachlose direkt eine Wohnung. Was ist daran so radikal anders?

Karen Holiznger: Wir wagen uns an eine Zielgruppe ran, wo das bisherige Hilfesystem sagt: Vergesst die, das packen sie nicht. Menschen die eine schwere Suchterkrankung haben oder auch psychisch krank sind, fallen häufig durch das Netz, weil sie nicht bei dem Hilfsangebot ankommen, dass für sie wichtig ist. Die Wohnungslosenhilfe ist so angelegt, dass Menschen eigenverantwortlich sind und selbstständig tätig werden. Es gibt viele, die nichts tun, weil sie Angst haben zu scheitern oder schon mehrfach gescheitert sind.

Mit einer Wohnung geht doch viel Eigenverantwortung einher.

Wir sagen: Erstmal kriegst du die Wohnung und dann schauen wir, dass du über diese Stabilisierung die anderen Punkte auch nach und nach in Angriff nehmen kannst. Und wir unterstützen dich dabei. Es ist eine der wesentlichen Herausforderungen bei „Housing First“, in der Normalität einer Wohnung anzukommen und mitzukriegen, was alles zu erledigen ist.

Das Leben auf der Straße hat einen Vorteil: Es lenkt von Problemen ab. In der herkömmlichen Hilfe werden erst alle Probleme gelöst, bevor dann die eigene Wohnung als Belohnung am Ende steht. Das ist der große Unterschied: Am Anfang steht die Wohnung. Und in der Wohnung setzt man sich dann mit den Problemen auseinander.

Wie erreichen Sie die potenziellen Klient:innen von Housing First?

Wir machen für das Projekt keine Werbung, denn wir haben momentan nur sehr begrenzte Plätze. Die bisherigen Klient:innen sind eigenständig zu uns gekommen, oder über ein Netz von Streetworkern. Wir wollen ja gerade diejenigen erreichen, die schon lang auf der Straße sind.

Darum geht’s

Das Projekt Housing First Berlin soll eine Alternative zum herkömmlichen Stufenmodell heraus aus der Obdachlosigkeit bieten.

 

Dauer des Modellprojekts

Von Herbst 2018 bis Herbst 2021.

 

Projektvolumen

Jeweils 617.000 Euro für das Jahr 2020 und das Jahr 2021. Ziele 40 Wohnungen zu vermitteln und die Überführung des Projekts in den Regel­betrieb.

 

Träger:innenvereine

Berliner Stadtmission, Neue Chancen, Sozialdienst katholischer Frauen.

Am 29. Januar ist die Nacht der Solidarität, die erste Obdachlosenzählung in Berlin. Kann sie bei der Erfassung der Bedarfe helfen?

Das werden wir sehen. Das größte Interesse ist vorerst, die Leute, die wirklich auf der Straße leben, zu zählen. Es gibt viele Einschränkungen bei der Zählung. Es werden keine Privatgelände und keine Abbruchhäuser gezählt. Eine realistische Zahl ist also nicht abzusehen. Trotzdem ist es ein Anfang. Man erkennt an: Wenn man an dem Problem was lösen will, dann muss man mehr Daten haben als bisher erfasst werden.

Die Zählung setzt das Thema Obdachlosigkeit stärker auf die politische Agenda?

Genau. Durch die aktuelle politische Besetzung in der Stadt gibt es ein vergleichsweise großes Interesse an dem Thema. Vor zehn Jahren wäre es völlig undenkbar gewesen, dass sich jemand dafür interessiert. Die Obdachlosenzählung ist einfach ein Signal.

Sendet Housing First auch positive Signale?

Das Modellprojekt wird von allen Seiten gut aufgenommen. Es ist erstaunlich, wie viel Erfolg wir bei der Wohnungsgenerierung haben. Im Vorfeld war das unsere größte Sorge: Dass wir ein tolles Projekt haben aber keine Wohnungen kriegen. Viele Vermieter:innen machen mit, das hat auch damit etwas zu tun, dass das Projekt insgesamt auf einer Welle von allgemeiner Wertschätzung für das Thema Wohnungslosigkeit schwimmt. Es gibt die Bereitschaft etwas zu tun.

ist Bereichs­leiterin der Wohnungs­losenhilfen der Berliner Stadt­mission.

Hat sich auch das Bewusstsein in der Bevölkerung verändert?

Wahrnehmbar gibt es keine gravierenden Veränderungen. Wir kriegen weder Drohanrufe, noch hat sich die Anzahl der Mitarbeitenden verdoppelt. Ich glaube trotzdem, dass es ein höheres Bewusstsein in der Bevölkerung gibt. Es geht alles Hand in Hand: das Stadtbild, die politische Agenda, die Projekte und das Bewusstsein. Auch dass der Wohnungsmarkt so eng ist, bringt Menschen dazu nochmal anders über das Scheitern am Wohnungsmarkt nachzudenken. Die Frage nach bürgerlicher Wohnungslosigkeit wird präsenter.

Hat das Projekt eine Zukunft?

Als Nächstes muss Housing First vom Modellprojekt ins Regelsystem überführt werden, was nicht einfach ist, weil man einen guten Rahmen finden muss – eine möglichst gute und sichere rechtliche Grundlage. Da werden wir jetzt anfangen. Aber ich bin sehr optimistisch.

Nun gibt es Menschen, die auf der Straße bleiben möchten. Auch ihnen sollte ein sicheres Leben zugestanden werden. Mit Blick in die Zukunft: Welche Angebote sind für diese Menschen denkbar?

Ein ganz neues Thema sind sogenannte Safe Places. Es gibt noch keine genaue Idee, wie sich diese in Abgrenzung zu den bisherigen Angeboten gestaltet werden können. Die Frage nach stabilisierenden Angeboten für Menschen, die es aktuell ablehnen als Teil der Gesellschaft zu leben ist präsent. Gleichzeitig müsste überlegt werden, wo der Anspruch an Veränderung liegt.

Ähnlich wie bei Housing First sollten Betroffene selber entscheiden und an Verantwortung wachsen können, statt einem pädagogischen Hilfeplan zu folgen. Die Frage steht politisch im Raum: Wie können wir anders reagieren als mit Räumungen? Dabei sind wir noch völlig am Anfang. Das ist sowohl in der konkreten Umsetzung, als auch in der Frage nach der Verteilung von Räumen in der Stadt  spannend.