■ „Postskriptum“ zu einem offenen Brief an Helmut Kohl
: Eine moralische Katastrophe

Kanzler Kohl hat auch 1992, inzwischen zum elften Male, die Neujahrsansprache gehalten – via Bildschirm und gleich mehrfach ausgestrahlt.

Welch eine Gelegenheit nach einem Jahr, das die Deutschen wie kaum ein anderes seit 1945 so aufgerüttelt, so erschüttert hat wie dieses, welche Gelegenheit, das zu demonstrieren, wonach in unserem Lande förmlich gehungert wird: historische, politische, ethische Aufrichtigkeit! Welche Möglichkeit, nach einem Jahr fürchterlicher Niederlagen im Kampf gegen die rechte Inhumanität, humane Glaubwürdigkeit wiederherzustellen! Zehn Minuten Mut waren gefragt vor der Kamera, in die Millionen schauten, sechshundert Sekunden Courage, eine ehrliche Bilanz der vergangenen zwölf Monate herzustellen und sich zu ihr zu bekennen. Eine Sternstunde in einer Phase schwerer Gefährdung der demokratischen Republik hätte sie werden können, diese Ansprache.

Nach ihrem Ende habe ich noch lange wie in einer Art Betäubung dagesessen, betäubt von der Frage: Wohin sind wir geraten unter der Kanzlerschaft dieses Mannes? Wozu ist die Politik verkommen? Kein persönlicher Satz der Trauer über 17 ermordete Menschen; keine direkte Erwähnung von Rostock; kein Gespür für die Pflicht, Mölln beim Namen zu nennen, sich zu verneigen vor den Hinterbliebenen der Mordanschläge, ihnen Sicherheit, ihnen Gewißheit der Unwiederholbarkeit zu geben, auch durch die mächtigen Mittel des Staates. Kein einziges unverblümtes Wort auch über die Täter selbst, und keine Silbe, keine einzige, über den braunen Humus, aus dem die Saat so mörderischer Gewalttaten überhaupt erst aufgehen konnte: über den stets klar als nazi- identisch erkennbaren, aber dennoch im konservativen Schoße gepäppelten „legalen“ Organisationsdschungel des deutschen Rechtsextremismus! Statt dessen wieder die Gleichsetzung einer fiktiven linken Gefahr mit der tatsächlichen, nämlich der historisch akuten von rechts, und das nach einem Jahr, das die demokratische Republik in ihre bisher schwersten Turbulenzen versetzt hat. Diese Gleichsetzung stellt nichts dar als eine bewußte Irreführung, nachdem 17 Menschenleben durch die Hand von Rechten getötet worden sind, darunter ein Deutscher, den Wuppertaler Skins für einen Juden gehalten hatten...

Ich hatte daraufhin, nach langen Beratungen und Überlegungen mit anderen jüdischen Männern und Frauen hierzulande, Helmut Kohl am 23. November 1992 in einem offenen Brief mitgeteilt, daß nunmehr in Deutschland Juden dazu übergegangen seien, die Probleme ihres Selbstschutzes in die eigenen Hände zu nehmen. Der Kanzler hat mich bis heute keiner persönlichen Antwort gewürdigt, es sei denn, man nimmt dafür seine Ankündigung im Bundestag: daß den die ganze Härte des Gesetzes treffen werde, der sich selbst bewaffnet... Also, im Falle eines Falles, genau jene Härte, die der Kanzler und sein Kabinett gegen die rechten Mörder so folgenreich vermissen ließen.

Aber was hatte ich erwartet? Wie denn hätte Helmut Kohl mir antworten können? War er doch am 23. November vorigen Jahres kein anderer als am 31. Dezember 1992.

Ich vermelde dem Kanzler hiermit, daß die Morddrohungen gegen mich inzwischen nicht nur immer schriller weitergegangen sind, sondern auch an Intensität zugenommen haben und an Intellektualität. Dafür steht eine gerade jüngst eingetroffene „Todesmitteilung“, die signiert war mit „Titus – Hierosolymae extinctor“, also mit dem Namen des römischen Feldherrn und späteren Kaisers, der im Jahre 70 Jerusalem zerstört hatte. Wir sehen: Humanistische Bildung schützt weder vor Antisemitismus noch vor anderen Formen der Inhumanitas.

Wird Helmut Kohl mir nun seine body-guard ausleihen? Nein? Sehen Sie, Herr Bundeskanzler, solange werde ich, ob Sie mir nun zustimmen oder nicht, meine potentiellen Mörder mit meinen eigenen Waffen erwarten!

Fazit: Nach dieser Neujahrsansprache fühle ich mich bedrohter denn je. Und nicht nur ich. Denn hier wird, und zwar für uns alle, wiederum die unheimliche Frage aufgeworfen: Kann der politische Typus, den Kanzler Kohl personifiziert, kann der sich überhaupt von rechts bedroht fühlen? Mögen die rechten Gewalttäter durch härtere Maßnahmen und härtere Urteile ein wenig vorsichtiger geworden sein – dahinter dürfen der deutsche Rechtsextremismus und seine einflußreichen Hintermänner und Finanziers ihre Kaderorganisationen weiter schmieden, an ihren nazinahen Parteiprogrammen basteln und die internationale Vernetzung mit Gleichgesinnten in Europa und Übersee ausbauen. Was nützt es, wenn drei, fünf oder auch zehn von fast hundert dieser NS-Nachfolgeverbände auf deutschem Boden verboten werden, ihr Gros aber „legal“ weitermachen kann, und solche Drahtzieher wie Gerhard Frey und Franz Schönhuber in Wahrheit schon tief in das parlamentarische System integriert sind?

Die Neujahrsansprache Helmut Kohls 1992 war mit ihren Begütigungen, ihren Beschönigungen, ihren Auslassungen eine einzige Beleidigung der Wirklichkeit. Es genügt nicht zu sagen: „Wer wegschaut, macht sich mitschuldig“, ebensowenig genügt der Hinweis auf „schwere Zeiten“. Eine Sternstunde hätte diese Ansprache werden können, wenn der Kanzler die „Lichterketten“ der Millionen nicht nur beschworen hätte, sondern in seiner Rede auch der Transmissionsriemen sichtbar geworden wäre, der diese ebenso gewaltige wie ermutigende gesellschaftliche Kraft in die Höhen der parlamentarischen Exekutive und Legislative zu befördern hat!

Das eigentlich Grauenhafte dieser Ansprache war ihre Beliebigkeit. Man konnte aus ihr nicht ersehen, was Deutschland 1992 um und um getrieben hat. Sie war in ihrer Floskelhaftigkeit austauschbar und hätte ebensogut schon vor einem Jahr gehalten werden können – mit der Ausnahme, daß die damals erst drohende Rezession inzwischen Wirklichkeit geworden ist.

Ich habe kürzlich geschrieben, Helmut Kohl sei ein nationales Unglück. Heute, am 2. Januar 1992, füge ich hinzu: und eine moralische Katastrophe. Die wehrhafte Demokratie, die nötig ist, um die Gefahr von rechts zu besiegen, und für die es im vergangenen Jahr gute Zeichen der Hoffnung gegeben hat, diese wehrhafte Demokratie kann nur geschaffen werden gegen diese Kanzlerschaft und ihr politisches Ambiente.

Helmut Kohl läßt keine andere Wahl zu. Ralph Giordano

Schriftsteller (u.a. „Die Bertinis“, „Die zweite Schuld“)