: „Kemenate“: Ein Schutzraum für wohnungslose Frauen
■ In der Eimsbütteler Bellealliancestraße können Frauen ohne eigene vier Wände sich tagsüber aufhalten
Ein schöner Altbau in der ruhigen Bellealliancestraße in Eimsbüttel. Im Erdgeschoß eine Teestube: Helle Kiefernmöbel, Teppichboden und Bücherregale. In einer gemütlichen Ecke sitzen einige Frauen bei einer Tasse Tee. „Kemenate“ ist seit November vergangenen Jahres Hamburgs einziger Tagestreff für obdachlose Frauen. „Wir sind keine Beratungsstelle“, erklärt Mitarbeiterin Sabine Treu. „Bei uns können die Frauen duschen, Wäsche waschen, telefonieren und sich vor allem ausruhen.“
Die 27jährige Jasmine* ist eine von ihnen. In Leggins, einem lässigen Pullover und mit halblangen Haaren unterscheidet sie sich nicht von anderen Frauen ihres Alters. Sieben Monate war sie ohne festen Wohnsitz, seit kurzem hat sie wieder eine Bleibe. Dennoch kommt sie noch regelmäßig hierher - die Obdachlosigkeit hat ihre früheren sozialen Bindungen zerstört. Jasmine kennt sich aus. Mit den Beratungsstellen, dem Tagesgeld. Und den einschlägigen Unterkünften für die Nacht, z.B. Notkestraße. Fünf Frauen schlafen dort in einem Raum zusammen. Tagsüber flüchten die meisten. „Die Zwangsgemeinschaft geht ganz schön auf den Keks, die Aggressivität ist groß.“
Jasmine erzählt von den demütigenden Gefühlen in dieser Zeit: „Wenn ich in ein Restaurant ging, hatte ich den Eindruck, ständig angestarrt zu werden. Wenn ich mit Leuten zusammen war, hatte ich Angst, daß sie rauskriegen, was mit mir los ist.“ Und von sehnsüchtigen Blicken in Schaufenster mit schöner Kleidung und dem Gedanken: „Das kannst du dir sowieso nie leisten.“
Auf „der Platte“, also im Freien, hat sie nie geschlafen. „Davor hatte ich zuviel Angst.“ Sabine Treu: „Obdachlose Frauen sind noch stärker als Männer Gewalt und Belästigungen ausgesetzt, in die gemischten Unterkünfte trauen sich viele erst gar nicht rein.“ Von den über 50.000 wohnungslosen Menschen in Hamburg sind gut 15.000 Frauen, so die offiziellen Schätzungen. Doch die Dunkelziffer ist hoch: „Obdachlose Frauen tauchen in der Masse unter. Man sieht es ihnen meist nicht an. Sie sind nicht so verwahrlost wie Männer, schämen sich eher.“ Viele finden Unterschlupf bei Bekannten oder gehen Zwangsgemeinschaften ein. „Das grenzt an Prostitution.“ Obdachlose Frauen als Objekt - Sabine Treu erzählt: „Vor einiger Zeit rief ein Frührentner an, richtig penetrant. Er hätte jetzt eine kleine Wohnung. Ob wir ihm nicht eine Frau schicken könnten.“
In „Kemenate“ teilen sich vier Betreuerinnen drei Stellen. Finanziert werden Miete und Gehälter vom Senatsamt für die Gleichstellung, aus Traute Müllers Fonds für Innovative Frauenprojekte. Allerdings auf drei Jahre begrenzt. Es laufen parallel Bemühungen, ab 1994 eine Übernahme der Finanzierung durch andere Senatsämter sicherzustellen, erklärt eine Sprecherin der Gleichstellungsstelle. Doch das liege in der Zuständigkeit der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales (BAGS).
Etwa zehn Frauen kommen zur Zeit regelmäßig. „Leider keine, die auf der Platte leben. Vielleicht haben sie Angst, ihren Beschützer zu verlieren. Man sagt von uns, wir hätten die Elite der Wohnungslosen“, sagt Sabine Treu mit einem nicht ganz glücklichen Lächeln. Sie hofft, daß es mehr Frauen werden, die die Angebote von Kemenate nutzen wollen: „Wir wollen zur Selbsthilfe anregen, gegen Tatenlosigkeit. Und ein Gemeinschaftsgefühl wecken.“ Die Frauen gehen zusammen einkaufen und kochen selbst. „Gerade über das Kochen erhalten sie Lob und Anerkennung“, weiß die Betreuerin. „In den meisten Einrichtungen bekommen sie alles vorgesetzt, eigene Bedürfnisse werden nicht mehr wahrgenommen. Sogar Kleidung wird nicht mehr gewaschen, sondern einfach weggeschmissen und ausgetauscht.“ In „Kemenate“ werden auch gemeinsame Unternehmungen geplant. „Einige Frauen haben sich gewünscht, zusamnmen tanzen zu gehen. Die haben sich dann im Café Keese einen vergnügten Abend gemacht.“
In „Kemenate“ muß keine Frau den Mitarbeiterinnen irgendetwas erzählen oder gar Rechenschaft über ihr Tun ablegen. „Aber wir sind da, wenn wir gebraucht werden“, beschreibt Sabine Treu ihr Selbstverständnis. Wenn Frauen irgendwann wegbleiben, wissen die Betreuerinnen häufig nicht, wo sie bleiben. „Nachfragen würden sie als Hinterherspionieren empfinden.“ Eine ist gerade „auf Walze“: „Von ihr bekommen wir ab und zu eine schöne Ansichtskarte.“
Am Ende setzt sich Iris* dazu. Sie ist 42 Jahre alt, lebt seit März in einem Pensionszimmer auf St. Pauli. Bruchstückhaft erzählt sie von ihrer Kindheit bei Adoptiveltern. Von dem Gefühl, nur geduldet zu sein, das sie ihr ganzes Leben begleitet hat. Die Adoptivmutter trank. „Deshalb habe ich mich von Alkohol und Drogen immer ferngehalten.“ Eine Lehre als Fotolaborantin, danach einige schlecht bezahlte Jobs. Im ersten eigenen Zimmer dann der psychische Zusammenbruch. „Seitdem kann ich nicht mehr richtig arbeiten, bin ein Sozialfall.“ Eine richtige Wohnung war immer ihr zentrales Problem. „Häufig frage ich mich nach dem Sinn der Arbeit. Was soll ich mir denn aufbauen?“ Am Ende: „Ein kleiner Second-Hand-Laden, das wäre mein Traum.“
Gaby Werner
* Namen geändert
Kemenate Tagestreff, Bellealliancestraße 47, Eimsbüttel, Tel.: 430 49 59, Öffnungszeiten täglich von 12 bis 17 Uhr, außer dienstags und freitags
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