: Aufruf
■ Schriftsteller und Journalisten!
Ist es vorstellbar, nicht mehr im eigenen Körper zu leben?
Als ich 1971 in Paris war, aß ich Ente in einer Soße aus wilden Pilzen, Walnußsalat und als Beilage zwei verschiedene Brotsorten ... Mein Magen blieb jedoch von einer merkwürdigen Art von Hunger beherrscht. Ich hatte genug gegessen, aber immer noch war ich hungrig.
Im Zug, der mich nach Bosnien zurückbrachte, aß eine bosnische Frau hausgemachten Käsekuchen. Sie bot mir ein Stück an – und plötzlich verschwand mein Hunger.
Es ist früh, und ich bin gerade aufgestanden. Ich sitze und schreibe mit zitternder Hand diese Worte, die an die Schriftsteller und Journalisten der Welt adressiert sind. Seitdem ich von „humanitären“ Essenlieferungen abhängig bin – für die ich der ganzen Welt natürlich zutiefst dankbar bin – kann ich nur noch bis zur Mittagszeit laufen und denken.
Ich bin Bosnier, mein Land ist Bosnien, und es hat sogar einen offiziellen Namen: Republik Bosnien-Herzegowina. Für mich sind seine Grenzen so wichtig wie die meiner eigenen Haut. Aber Serbien, Montenegro und Kroatien wollen Bosnien-Herzegowina aufteilen und mein Volk zerstören.
Weder der Weltsicherheitsrat noch der Sicherheitsrat der Europäischen Gemeinschaft, noch die EG selbst, weder die fünf Minister, die Islamische Konferenz oder gar die Vance-Owen-Kommission verstehen es, ihre eigenen Resolutionen zu schreiben und zu lesen. Bisher war jede Resolution ein Desaster. Die Vereinten Nationen haben uns sogar die Selbstverteidigung verboten. Auf der Straße sagen die Leute, daß die europäischen Länder, Rußland und die Vereinigten Staaten uns unserem Schicksal und den Händen dieser Kriminellen überlassen haben aus dem einfachen Grund, weil wir Moslems sind.
Ich rufe alle Schriftsteller und Journalisten der Welt auf, alle, die den Mut haben, zum Stift zu greifen und ihre Spur auf einem Stück Papier zu hinterlassen. Ich rufe sie auf, ihr Vorhaben aufzugeben, das „Große Buch“, die Wahrheit über Bosnien zu schreiben. Es wäre für uns wesentlich nützlicher gewesen, wenn sie es verstanden hätten, das Buch der hetzerischen und blutigen Lügen zu lesen, die die Serben auf unsere wehrlosen Körper projiziert haben.
Denn wir Bosnier haben nicht zwei Heimatländer, wir haben nur eins, was wir gegen alle unsere Feinde verteidigt haben – sei es 1737 gegen den Prinz von Hideburghausen oder gegen den Pascha Mahmoud II. Rachid im Jahre 1832. Heute bombardieren die Serben den Taj Mahal, und die Kroaten haben um die Moschee von Čordoba einen Belagerungsgürtel gelegt! Ich hoffe, daß diese Lektionen nicht nur die Ohren von Moslems erreichen.
Alle Bücher, die ich geschrieben habe, waren als Briefe an ihre Leser gedacht. Dieser Brief ist an Schriftsteller und Journalisten adressiert. Die Regale um mich herum sind mit Büchern von Autoren aus verschiedenen Ländern beladen. Ich möchte auf keines von ihnen verzichten. Warum also sollte die Welt bereit sein, ein ganzes Volk aufzugeben?
Ich habe die Gegenstände betrachtet, die im Grab von Tutanchamun gefunden wurden, und war erstaunt darüber, was menschliche Hände geschaffen haben, stolz darauf, daß solche Hände einst existierten.
Als Neil Armstrong seinen ersten Schritt auf den Mond tat, sagte er: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gigantischer für die Menschheit.“ Und alle Bewohner des Planeten Erde fühlten, als ob sie diesen Schritt mit ihm getan hätten. Sie haben sich nicht geirrt.
Warum haben heute dieselben Menschen ihre Augen verschlossen angesichts des so grausamen und ungerechten Verschwindens des unschuldigen bosnischen Volkes?Nedzad Ibrisomović
Präsident des Bosnischen Schriftstellerverbandes
(Übersetzung: Bettina Bremme)
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