■ In eurozentristischer Perspektive wird Ruanda zum bluttriefenden Ereignis / Was aber steckt hinter dem Morden
: Ein Stammeskrieg? Niemals!

Sind es „erst“ 100.000 Tote? Oder schon doppelt so viele? Oder gar eine halbe Million? Die Nachfrage nach Hochrechnungen des Grauens ist groß, wie immer, wenn die Weltmedien Afrika entdecken. Soeben sind die CNN-Kameras nach Kigali vorgestoßen. Ruanda, Herz der Finsternis, Massaker für die Prime Time. Afrika liegt am Rande des globalen Sehfeldes, dort, wo die Wahrnehmung unscharf, schemenhaft wird. Ursachen des Unfriedens? Verstrickungen des Weltsystems? Keine Zeit, kein Platz für gründliche Analysen. Die Chronisten werden angehalten zu vereinfachen. So entstehen mitunter aus Seh-Schemen Schreib-Schablonen – wir wollen uns selber gar nicht ausnehmen. Auch wir bedienen eurozentristische Wahrnehmungsmuster, weil wir eben nur dann irgendwo hingeschickt werden, wenn's brennt.

Jetzt wird Ruanda in bluttriefenden Schlagzeilen der Bedeutungslosigkeit entrissen. Wo bleiben die Aufschreie der Empörung? Wo der Ruf nach schneller Einmischung? Offenbar schreckt die neuen Weltordner die Erinnerung an das Desaster von Mogadischu ab. Folglich will man erst gar nicht so genau wissen, wer warum gegen wen kämpft und wie es dazu kam. Statt dessen wird eine Chiffre eingesetzt, die allen Unfrieden auf dem Schwarzen Kontinent erklären soll: Stammeskrieg.

Das ist ein altes, seit Kolonialzeiten bewährtes Interpretationsmuster. In vielen Fällen zielt es an der Realität vollkommen vorbei. Zum Beispiel in Somalia, wo es nie Stämme gab. Oder in der südafrikanischen Provinz Natal, wo sich nicht Stämme, sondern linke ANC-Anhänger und rechte Inkatha-Aktivisten gegenüberstehen, die allesamt Zulus sind. Aber ist „Stammeskrieg“ stets eine vorurteilsbeladene Formel? Oder anders gefragt: Warum ordnen sich in diesen Tagen die Schlächter automatisch einer Volksgruppe zu, obwohl angeblich alle ethnischen Gräben durch Heirat, Freundschaft oder gute Nachbarschaft längst zugeschüttet sind?

Sogar in der taz scheinen angesichts der unbegreiflichen Grausamkeiten „ethnische Grenzen“ auf. Sollte es etwa doch Trennlinien zwischen Tutsi-Minderheit und Hutu-Mehrheit geben? Offenbar ja, und mehr noch: Es ist sogar die Rede von einer „entflammten Feindschaft zwischen den Ethnien“. Also doch ein Krieg zwischen Brüdern und Schwestern, die nicht derselben Volksgruppe, demselben Stamm angehören?

Mitnichten. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Es gibt keine Stämme auf der Welt, also gibt es auch keine Stammesfehden. Solche Begriffe stehen als kolonialistische, ja völkische Denkanleihen auf dem PC-Index. Es handele sich schließlich um Erfindungen der weißen Herrenmenschen zur gezielten Unterdrückung der Schwarzen. Kein Zweifel, die grobe Kategorisierung der Volksgruppen ist das Werk weißer Ethnologen.

Unbestritten auch, daß sie von den Kolonialisten als Herrschaftsinstrument eingesetzt wurden. Doch jenseits dieser machtpolitischen Segregation existieren ethnische Familien, die gemeinsame oder eng verwandte Traditionen, Sprachen, Sitten, Bräuche und Kulturen pflegen.

Siehe Ruanda: Obwohl sich die Stämme vermischt haben, obwohl sie die gleiche Sprache sprechen, obwohl Hutu an der Seite von Tutsi kämpfen und umgekehrt – die Trennlinien verwandeln sich gerade im mörderischen Klima eines Bürgerkrieges in Grabenbrüche. Allein, die tribalistische Komponente des Hasses wird in politisch korrekten Analysen geflissentlich weggelassen.

Wer ist warum so bösartig? Die Antwort in der taz: Die Tötung von Feinden rufe „bei manchen, offenbar vor allem jungen Männern“ etwas hervor, „was nur noch als Blutrausch bezeichnet werden kann“. Das ist eine unverfängliche Denkhülse, die sich noch dazu ubiquitär anwenden läßt: Ob deutsche Neonazis, serbische Milizen oder somalische Schlagetots – überall verkörpern halbstarke Machos das Übel schlechthin.

Jenseits der personalen Teilschuld wirkt die imperiale Gesamtschuld: die Slavenhalterei, der Kolonialismus, die ungerechte Weltmarktordnung, das Diktat der Weltbank. All diese Faktoren seien, so hören wir in einem ceterum censeo der Betroffenheit, heute und in alle Ewigkeit hauptverantwortlich für Elend und Krieg in Afrika. Kein Zweifel, in Ruanda haben die deutschen und belgischen Kolonialisten die Volksgruppen systematisch stratifiziert und auserwählte Tutsi zu willigen Gehilfen herangezogen. Dies fiel den Invasoren um so leichter, als die feudale Ordnung der eingewanderten Tutsi schon einen sozialen Nährboden für die Segregation geschaffen hatte.

1959 kam die Revolution, die Hutu schüttelten die Vorherrschaft der Tutsi ab, seit 1962 ist Ruanda unabhängig. Drei Jahrzehnte hatten die herrschenden Eliten Zeit, einen neuen, unabhängigen Staat zu bauen und die Völker zu versöhnen. Geschehen ist so gut wie nichts. Im Gegenteil: Wie viele andere afrikanische Länder steht Ruanda heute noch schlechter da. Warum? Zum Beispiel weil der Verfall der Rohstoffpreise einen Kaffee-Exporteur wie Ruanda in die Knie zwingt. Alles fremde Schuld also, kein Eigenversagen? Gewiß doch: Der ewige Imperialist tut in den Schaltzentralen des Nordens ein schlimmes Vernichtungswerk.

So einfach ist das, da muß man nach vielschichtigen Ursachen des Scheiterns nicht lange fragen. „Beim Thema Entwicklung“, schreibt die Nord-Süd-Expertin Axelle Kabou, „kann über alles gesprochen werden außer über die Afrikaner.“ Afrika stelle sich als „Opfer eines jahrhundertealten Komplottes“ dar. Das ist aus dem Munde einer Westafrikanerin natürlich Blasphemie gegen jenen Verschwörungsglauben, den schwarze Herrscher ebenso rosenkranzartig herbeten wie ihre weißen Helfer.

Wenn der einfache Kolonialismus als Erklärungsmodell zu kurz greift, behilft man sich mit dessen Verdreifachung: deutsche und belgische Unterjocher, katholische Pfaffen und einheimische Cliquen. Wer wollte in Abrede stellen, daß dieses Dreigestirn die Völker Ruandas unterdrückt hat? Andererseits sei die Frage erlaubt: Wie steuert dieses Machtamalgam die Destruktivkräfte der jüngsten Generation in Ruanda? Läßt sich ein Ursache-Wirkungs-Netz spinnen zwischen dem Gewaltakt des deutschen Hauptmannes Hans Ramsay, der 1897 den Reichsadler hißte, und dem gegenwärtigen Terror im Lande?

Es ist möglich – vorausgesetzt, man konstruiert den ideellen Gesamtafrikaner, der seit Magellans Zeiten an der Vergewaltigung seines Kontinents leidet. Hinter der metahistorischen Deutung aktueller Konflikte irrlichtert ein romantisches Ideal, das die sog. Dritte- Welt-Bewegung unbewußt hochhält: die Lichtgestalt des edlen Wilden. Er ist stets das Opfer, und nur insofern der Täter, als ihm weiße Soldaten, Ausbeuter oder Missionare die Unschuld geraubt und eine zweite Natur übergestülpt haben. Axelle Kabou: „Das ,Afrika- dieser-wundervolle Kontinent- der-vor-dem-Eindringen-der-Kolonisatoren-eine-völlig-harmonische-Einheit -bildete‘ ist ein antikolonialistischer Mythos und hat nichts mit der Realität zu tun.“

Also wird kurzerhand ausgeblendet, was den paradiesischen Schein trübt: Daß es afrikanische Raubimperien und Unterdrückerregime gab; daß schwarze Fürsten ihre eigenen Leute einfingen und als Sklaven verkauften; daß die mörderischen Feldzüge des Zulukönigs Shaka die große Difaqane auslösten, eine Massenflucht, die die Bevölkerungsstruktur im ganzen südlichen Afrika veränderte.

Wer sät in Ruanda den ethnischen Haß? Sind die korrupten Politiker, die zur Sicherung ihrer Machtposten und Pfründe tribalistische Keile zwischen die Volksgruppen treiben, unschuldige Opfer fremdländischer Wölfe? Wurde etwa der demagogische Privatsender RTLM, der die Ängste der Hutu-Mehrheit schürt und zu Mord und Totschlag gegen die Tutsi-Minderheit aufruft, vom belgischen Geheimdienst installiert? Wer ist in Kigali auf die Idee gekommen, Bankkunden bei der Kontoeröffnung nach ethnischen Kategorien zu erfassen – zugereiste Kolonialisten oder einheimische Bürokraten?

Natürlich sind die Ursachen der Massaker in Ruanda zu komplex, um sie in kurzen Artikeln auszuleuchten. Der Verteilungskampf um knappe Ressourcen in einem überbesiedelten Land, dessen schwache Volkswirtschaft unter einer weltmarktinduzierten Dauerkrise leidet; die Überfälle der Tutsi-Rebellen; das Wüten von Todesschwadronen, die auf Andersdenkende, einerlei, ob Tutsi, Hutu oder Twa, angesetzt werden – all diese und noch eine Reihe anderer Faktoren erzeugen jenen Haß, auf dessen Ausbund wir so fassungslos und hilflos starren wie auf die Grausamkeiten in Bosnien.

Und dennoch sticht aus diesem unübersichtlichen Ursachengeflecht immer wieder ein tribalistisches „Zuordnungsmuster“ heraus, das selbst PC-Analytiker verwenden: Hutu-Mehrheit gegen Tutsi-Minderheit, Tutsi-Rebellen gegen Hutu-Regierung, Hutu- Gangster gegen Tutsi-Banditen. Ein Stammeskrieg? Niemals! Es muß heißen: „Blutvergießen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen“ oder „Kampfhandlungen zwischen Ethnien“. Das meint zwar dasselbe, klingt aber besser, korrekter. Bartholomäus Grill

Siehe auch den Debattentext von Bettina Gaus: „Europas Ekel vorm Schwarzen Mann“ (taz vom 25.4., Seite 10)