: Umgang mit dem Entsetzlichen
■ betr.: „Der große Stumpfsinn“ von Sybille Tönnies, taz v. 8. 8. 95
Mit überwiegender Zustimmung las ich am 8. August Sibylle Tönnies' Analyse der gegenwärtigen „Vorkriegszeit“ mit Gesellschaftskritik. Fast – denn zwei Feststellungen, Sibylle, sind falsch:
1. Zitat: „Auch die Grünen haben umgedacht ...“ Wie das? Wenn Joschka F. hustet, dann sind alle Grünen krank? So doch wohl nicht! J. F. hat eine unvermeidliche Diskussion eröffnet, vor der wir Bündnisgrünen Angst haben, vor der wir uns aber nicht drücken können und dürfen. Daß uns diese Diskussion aufgezwungen wird, weil die Friedenspolitik versagt, weil die feindlichen Balkan-Brüder soviel Geld zugeschoben kriegen (von wem?!), daß sie sich damit auf technisch sehr hohem Niveau gegenseitig, zeitlich unbegrenzt, umbringen können, das ist alles schrecklich und furchtbar. Und mit dem Ensetzlichen umgehen ist nicht leicht. Denn welche Entscheidung auch getroffen wird, sie wird mit Blut bezahlt werden.
Trotzdem: eine politische Kraft mit dem Anspruch von Bündnis 90/Die Grünen muß auch auf die ungewollt veränderte Lage heute eine Antwort geben. Wir tun uns schwer damit. Fischer ist schon durch. Wir (die Basis) noch nicht.
[...] Nachdem sich unsere Herkunft und die unserer Wähler u. a. aus der Friedensbewegung ableitet, ist es falsch, Sibylle, wenn Sie vermuten, daß z. B. die Grünen heute „militärisch ahnungslos“ gemeinsam mit ihren Vordenkern „ins Kriegshorn tuten“ werden. Ich bitte Sie zu recherchieren und nicht zu verallgemeinern.[...]
2. Zitat: „Die Männlichkeit bekommt noch einmal ihre Chance ...“ Das, Sibylle, ist sehr provozierend-weiblich formuliert! Außerdem sehe ich nicht nur Realos, sondern von Frau Sager bis Frau Graf auch eine ganze Menge Realas dazwischen (auch Frau Schoppe leider). Nun gab es ja immer schon stolze Soldatenmütter und -frauen, denen Wehrhaftigkeit und Mannesehre Trost und Rechtfertigung bedeuteten. Es gab aber auch immer gewaltfrei denkende Männer. Und derer werden sogar immer mehr! Und deshalb stört mich Ihr Verdikt.
Waffengewalt ist keine Lösung. Sie wird im Balkankrieg eher zur Eskalation des Irrsinns beitragen. Gruß Klaus Hoffmann
Bündnisgrüner Stadtrat
in Ludwigsburg
Ich habe schon lange keinen Text mehr aus solch verqueren Thesen, Folgerungen und platten Verallgemeinerungen gelesen. Die Autorin projiziert wohl ihre eigenen Würge- und Kotzreflexe auf „die Gesellschaft“ (immerhin ca. 80 Mio. Menschen, alle ganz schön verschieden voneinander), die vor lauter Verfettung dem Herzinfarkt nahe sein soll und nach einem reinigenden Kriegserlebnis giert. Frau Tönnies sollte sich selbst in ihren Text einsetzen, als ICH, nicht als MAN, und mit diesen stumpfsinnigen Verallgemeinerungen aufhören: Auf allen Familien, allen Beziehungen lastet ...; man ahnt dumpf ... (wer?); der Kulturbetrieb ... (wer genau?); alle Reize ... (welche?); alles wartet auf ... (wer?) die ehemalige Linke ... (wer soll das sein?) [...] Wie schön, daß zumindest Frau Gräfin am Grabesrand weiß, was Krieg bedeutet: Er kommt und geht, wann er will. Er macht, was er will, das eigenständige Wesen.
Und später dann die arme Jugend: töricht und willfährig und niemals widerstandsfähig. Ach ja: in unserer Kultur fehlt die Wertschätzung des Blutopfers, obwohl das Fehlen dieser Opfermentalität (s. o.!) die einzige Hoffnung ist, die wir jetzt haben. Usw. usw.
Die Haltung der Autorin: Gegen den Krieg als Mittel einer hilflosen Politik! anerkenne ich. Aber ihr für ihre gesamte Gedankenmelange eine halbe taz-Seite zur Verfügung zu stellen? Ob es am Sommerloch liegt? Mit freundlichen Grüßen R. Fritsche, Bremen
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