Schreiben auf der Ranch

Üben, um Hemmungen abzubauen und die eigenen Geschichten aus der Kindheit und aus Träumen fließen zu lassen: Ein Schreibkurs bei Natalie Goldberg ist Seelenmassage  ■ Von Susanne Becker

Unglaubliche Stille, Weite und tiefrote Erde, die sich überall auf dem Gelände der Ghost Ranch zu klebriger Matsche verwandelte und in dicken Klumpen an den Schuhen klebt. Die Woche zuvor hatte es geschneit. Nun kommt die Sonne hervor. Ich sitze auf einem der zahlreichen Holzliegestühle draußen auf der Wiese und lasse meine Schuhe zentnerschwer über die Stuhllehne baumeln.

Die Ghost Ranch liegt in einem Ort namens Abiquiu im Norden des US-Bundesstaates New Mexico, etwa anderthalb Stunden von Santa Fe und drei Stunden von Albuquerque entfernt. Die amerikanische Malerin Georgia O'Keefe wohnte und arbeitete dort, ebenso der Fotograf Ansel Adams und der Schriftsteller D.H. Lawrence. Auch heute noch sind die Orte Santa Fe und Taos bekannte Künstlerkolonien.

Seit 1955 ist die Ghost Ranch, die ihren Namen dem Glauben der Ureinwohner an dort residierende Geister verdankt, unter der Obhut der Presbyterianischen Kirche Amerikas. Sie dient als Konferenz- und Studienzentrum für Erwachsene und als Stützpunkt für Umweltschützer. Gemeinsam mit den umliegenden Gemeinden betreibt sie zahlreiche Projekte zum Erhalt der Landschaft. Außerdem werden dort Kurse in Archäologie, Geschichte, Musik, Spanisch und zum Schreiben angeboten.

Wir, in der Mehrzahl Frauen, sind zu einem fünftägigen Schreibkurs bei Natalie Goldberg aus allen Himmelsrichtungen nach New Mexico gereist. In Deutschland ist Natalie Goldberg nicht allzu bekannt. Nur eines ihrer Bücher wurde bislang ins Deutsche übersetzt. Derzeit ist es vergriffen.

Ab und an blicke ich hoch von meinem Notizbuch, in das ich alles schreibe. Überall auf der Wiese sitzen sie verstreut auf ihren Liegestühlen, die Teilnehmer meines Kurses. Alle schreiben, und manche haben sich zu zweit oder zu dritt zusammengetan und lesen sich ihre Ergüsse gegenseitig vor.

Natalie Goldberg bietet Hilfe und Unterstützung für jeden, der die Absicht hat zu schreiben. In ihren Büchern beschreibt sie ihren Alltag als Schriftstellerin und gibt Tips. Zum Beispiel wie frau damit umgeht, daß sie eigentlich seit Stunden schreiben will, statt dessen aber gezielt um den Schreibtisch herumpirscht und vom Staubsaugen bis zum Nägelfeilen alles tut, außer zu schreiben. Ihr Adressat ist vor allem der Schreibwillige, der sich nicht traut: mangels Durchhaltevermögen, aus der Angst heraus, sowieso schlecht zu schreiben, oder einfach, weil er nicht weiß, wie beginnen.

In der Rolle einer Therapeutin

Natalie Goldbergs Methode zielt darauf ab, Hemmungen abzubauen. Sie ist der amerikanische Guru des „Jeder kann schreiben“. Sie glaubt, daß jeder Geschichten in sich trägt, die vor wilder Energie nur so zu explodieren drohen. Sie beurteilt nicht und gibt uns ausdrücklich die Erlaubnis, schlecht zu schreiben. Alles ist erlaubt.

Goldbergs Methode basiert auf zehnminütigen Schreibübungen zu einfachen Themen wie: Tomate, Schlafanzug, Autofahren ... Der Themenwahl liegt kein System zugrunde, und es kommt nicht darauf an, in den vorgegebenen zehn Minuten ein perfektes Stück Literatur zu produzieren. Die einzige Regel ist, während der zehn Minuten immer weiterzuschreiben, auf gar keinen Fall den Stift anzuhalten. Dies dient vor allem dazu, den rationalen Kritiker in uns zum Schweigen zu bringen und den kreativen, ungezähmten Teil zu Wort kommen zu lassen.

In der Regel ähneln die Resultate den Erzählungen in einer Selbsterfahrungsgruppe. Oft genug erwische ich mich dabei, wie ich gähnend zum Fenster hinausstarre und bete, nicht noch eine Geschichte über ein an Krebs sterbendes Elternteil mitanhören zu müssen. Dabei bin ich mir meines Verrats an Goldbergs Methode bewußt. Die will auf keinen Fall beurteilen, und schon gar nicht negativ. Natalie Goldbergs Rolle ähnelt der einer Therapeutin. Einige Kursteilnehmer nehmen dies gern wahr. Wenn einer aus der Gruppe etwas vorliest, sind nur zwei Reaktionen erlaubt: Entweder jemand sagt: „Danke, daß du das mit uns geteilt hast“, und alle Kursteilnehmer geben ein zustimmendes Seufzen von sich. Oder aber wir alle wiederholen besonders eindringliche Sätze des soeben Gehörten, um dem Schreiber zu signalisieren, welche Teile seines Textes sich ins Gedächtnis eingraben.

Wir sitzen zu fünft in der Bibliothek und geben uns reihum Themen vor: Schlafanzug. Alle schreiben, begierig. Geschichten kommen hoch, aus der Kindheit, aus Träumen. Tracy liest eine Geschichte über einen ihrer alten Kinderschlafanzüge vor. Sie hatte ihn an jenem Abend getragen, an dem ihre Mutter einen furchtbaren Autounfall hatte. Das war vor 20 Jahren, aber die Erinnerung wird so lebendig aus ihrem Text heraus, daß wir alle fünf innerhalb weniger Minuten Rotz und Wasser heulen. Tracy braucht lange, um ihre Geschichte zu beenden, weil sie zwischendurch immer wieder losheult. Wir tätscheln ihren Rücken, Sheridan hält ihre Hand, und für wenige Minuten ist es unfaßbar, daß wir alle uns erst vor drei Tagen zum erstenmal gesehen haben.

Natalie Goldbergs Methode hilft bei der Suche nach den eigenen Geschichten. Ihr Motto: „Merkt euch, es kommt nicht darauf an, daß ihr irgendwann veröffentlicht werdet. Sondern es kommt darauf an, daß ihr schreibt, wenn Schreiben das ist, was ihr wirklich und wahrhaftig tun wollt.“

Buchtip: Natalie Goldberg, „Der Weg des Schreibens“. Knaur Taschenbuch-Verlag