Reisereportage Georgien-Armenien 2013: Eine Reise in zwei Kaukasus-Staaten

Christian H. Meier, Chefredakteur von Zenith - Zeitschrift für den Orient, war 2013 mit der taz in Georgien und Armenien.

Chinesische Touristen im Stalin-Museum in Gori/Georgien Bild: Ruth Aping

Die kleine Truppe aus dem großen Land amüsiert sich prächtig, während sie für das Gruppenfoto Aufstellung nimmt. Es wird gelacht und posiert, Sonnenbrillen werden geradegerückt und Zähne grinsend entblößt; endlich ist alles bereit für die Aufnahme. Die junge Reiseleiterin drückt auf den Auslöser, dann noch mal und noch mal – bis alle Kameras, die ihr von den chinesischen Touristen mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung überreicht worden sind, die Szene eingefangen haben. Zu Hause in Shanghai oder Peking werden Freunde und Verwandte später sehen, wie die Gruppe vor einem alten, niedrigen Haus steht, weiß getüncht und mit Holzbalustrade. Vermutlich werden die wenigsten nach der Geschichte des unschuldigen Häuschens fragen, das den Hintergrund für das prächtig gelaunte Dutzend abgibt. Dabei wurde hier einer der brutalsten Politiker des 20. Jahrhunderts geboren: Josef Stalin, in Georgien geborener Kriegsheld und Diktator.

Die Ambiguität der Szene charakterisiert recht gut die Atmosphäre des Stalin-Museums von Gori, auf dessen Areal die schlichte Hütte steht – die im Übrigen mit einem wuchtigen, säulengesäumten Pavillon überbaut worden ist, zum Schutz vor dem Zahn der Zeit und vermutlich auch als ein Art Schrein. Vor dem Museum: sonnige Unbeschwertheit. Paare spazieren mit ihren Kindern durch den kleinen Park rund um das Museum, ein Hund liegt dösend neben dem Eingang.

Stalin-Kult in Gori

Im Museum: Stalin-Erinnerungskult auf zwei Etagen. Der Souvenirshop verkauft Stalin-Tassen in sechs Farben und Stalin-T-Shirts in Sowjetrot, die Ausstellungsräume weichen von diesem Konzept nur unerheblich ab. Dargeboten wird das Leben eines großen Staatsmanns. Die Exzesse – sprich: die Massenmorde an echten und vermeintlichen Oppositionellen – sind der Museumsführerin nur einige wenige Sätze wert, die sie noch schneller herunterrattert als die restlichen, vorzugsweise ruhmreichen Informationen. Im Eiltempo rauscht sie durch die Räume, die durchaus geschmackvoll mit Stalin-Bildern, Stalin-Büsten, Staatsgeschenken an Stalin und historischen Dokumenten über Stalin gefüllt sind, bevor man groß zum Nachdenken oder gar Nachfragen kommt, ist die Tour vorbei.

Straßenszene mit Lenin in Tbilissi/Georgien Bild: Ruth Aping

Zu Gast bei der unabhängigen Lokalpresse

„Eine Unverschämtheit“, empört sich Revaz Okruashwili, als später die Rede auf das Museum und die Tour kommt: „Es gibt einen ganzen Raum, der der Repression unter Stalin gewidmet ist – wurde der nicht gezeigt?!“ Der georgische Journalist schüttelt den Kopf. Die Führerinnen in dem Museum seien alle überzeugte Stalinistinnen, sagt er und fügt bestimmt hinzu: „Ich sitze im Beirat des Museums, ich werde das zur Sprache bringen.“

Okruashwili ist Chefredakteur der einzigen unabhängigen Zeitung der Provinzhauptstadt Gori, die rund 70 Kilometer westlich von Tiflis liegt, in Zentralgeorgien. Um die regierungskritische „Zeitung des Volkes“ am Markt zu halten, musste der 64-Jährige immer wieder schwere Kämpfe ausfechten. Vor zehn Jahren wurde er einmal als angeblicher Drogenhändler verhaftet, und heute fällt es ihm schwer, Anzeigenkunden für sein wöchentliches Blatt zu finden – die meisten bleiben aus politischen Gründen fern. Immerhin, so Okruashwili, habe sich der Druck auf unabhängige Journalisten seit dem Ende der Präsidentschaft Micheil Saakaschwilis Ende 2013 spürbar verringert.

Zerstörte Hoffnung: Präsident Micheil Saakaschwili

Der Name Saakaschwili steht bis heute für die große Ernüchterung unter den progressiven Kräften Georgiens. 2004 war der in den USA ausgebildete Politiker als Hoffnungsträger ins Amt gekommen, er verordnete dem Land eine Westorientierung und versuchte es vom Einfluss Moskaus zu emanzipieren. Letzteres Projekt endete 2008 in einem Debakel, als Georgien in einem kurzen Krieg um Südossetien – eine abtrünnige Provinz im Norden des Landes – von russischen Truppen geschlagen wurde. Am Ende seiner Amtszeit assoziierten die meisten mit Saakaschwili nur noch Korruption und Autoritarismus – eben jene Missstände, die zu beseitigen er seinerzeit angetreten war. „Ich hasse ihn so sehr, dass ich nicht einmal seinen Namen nenne“, echauffiert sich ein Georgier, „denn er hat uns die Arbeit genommen und das Leben der Jugend zerstört!“

Neues Parlament in Kutaisi/Georgien Bild: Christian H. Meier

Saakaschwilis Nachfolger als Präsident, der seit November 2013 amtierende Giorgi Margwelaschwili, verfügt nach einer Reihe politischer Reformen über deutlich weniger Machtfülle; starker Mann im Hintergrund ist nun der Milliardär Bidsina Iwanischwili. Der Unternehmer und Politiker hat sich auf einem Hügel am Rande der Innenstadt von Tiflis eine Residenz und Geschäftszentrale errichten lassen, die aussieht wie aus einem James-Bond-Film gefallen. Stahl und Glas und futuristische Formgebung: die favorisierte Kombination auch Micheil Saakaschwilis, der überall im Land Glaskuppeln à la Reichstag sowie gläserne Polizeistationen hatte errichten lassen – um Transparenz zu symbolisieren. Dies verleiht Georgien, dem stolzen, alten Kulturland mit seiner christlichen Tradition, seinen rau-schönen Landschaften und seinen guten Weinen, ein merkwürdiges Gepräge, irgendwo zwischen Alt und Neu.

Kontrastprogramm in Armenien

Der Unterschied fällt umso stärker ins Gewicht, wenn man die Reise ins Nachbarland Armenien fortsetzt. Georgien ist ein armes Land – Armenien ist noch ärmer. Die Loslösung von Russland ist hier nicht einmal ernsthaft versucht worden; bis heute schwebt die kleine Republik im Orbit der ehemaligen Kolonialmacht. Wo Tiflis mit modernistischer Architektur zu punkten versucht, verströmt Armeniens Hauptstadt Eriwan den leicht verstaubten Charme postsowjetischen Stillstands.

Traditionelles Brotbacken in Armenien Bild: Christian H. Meier

Jugend ohne Perspektive

Das mag auf den Besucher beschaulich wirken; für die Jugend ist der Zustand des Landes unerträglich. Durch Abwanderung verliere Armenien massiv an Bevölkerung, erzählen Aktivisten des „Instituts für Demokratie und Menschenrechte“. Sie informieren junge Menschen über ihre Bürgerrechte und unterrichten sie in Strategien von Graswurzel-Aktivismus, um gewaltlos gegen Korruption und politischen Stillstand anzugehen. Auch wenn der Kern der Bewegung recht überschaubar ist – Projektleiter Gor Hakobyan spricht von nicht mehr als 100 Personen –, hatten die Aktivisten in den letzten Jahren einige Erfolge zu verzeichnen: So mobilisierten sie öffentlichkeitswirksam gegen die Bebauung eines kleinen Parks in der Innenstadt.

Die Unterstützung durch die breitere Bevölkerung sei essentiell für die Arbeit der Aktivisten, sagt Hakobyan – nun müsse daran gearbeitet werden, diesen Zuspruch zu verstetigen und in konkrete politische Forderungen umzuwandeln. Mitunter scheint dies jedoch einem Kampf gegen Windmühlen zu gleichen. „Hier können wir Träume für unser Land träumen“, sagt Hakobyan mit Blick auf die Räume des „Instituts für Demokratie und Menschenrechte“. Vorerst bleiben es jedoch Träume.

Kurz nach der Reise veröffentlichte Christian Meier im September 2013 in "Zenith" einen aktuellen Bericht zur politischen Situation in Armenien: HIER