piwik no script img

Hörnotizen aus der Provinz

■ Fürs Autoradio, den Walkman oder zum Tete-a-tete bei Champagner und Kerzenschein hat der SFB nun eine Tonkassette mit S-Bahn-Geräuschen ediert

Haste da noch Töne? Kaum ein Vierteljahr ist es nun her, daß Senator Strieder mit dem Brustton der Überzeugung mahnte, Berlin müsse ins „Konzert der Weltstädte“ zurückkehren. Doch nicht alle schlugen sich ob der Metropolenstriederei auf die Schenkel – der Sender Freies Berlin nahm die Aufforderung ernst und legte vor kurzem die Vertonung dieses „Konzerts“ vor: eine 120minütige Tonkassette mit Originalaufnahmen einer S-Bahn-Fahrt von Spindlersfeld nach Birkenwerder.

Die 19,95 Mark teure Kassette „S-Bahn-Sound“ „ist ein voller Erfolg“, freut sich der Werbebeauftragte des SFB. Schon bald sollen die Käufer von 2.000 Kassetten und 5.000 CDs per Autoradio oder Walkman das Schnaufen und Rattern der S-Bahn-Züge hören dürfen – Schienentechno für die Jünger der ersten industriellen Revolution.

Daß das auditive Bahnvergnügen etwas für „Hartgesottene“ ist, wie es die Berliner Verkehrsblätter mit der nötigen Portion Euphemismus betonen, ist bei genauer Beobachtung der Berliner Szenerie freilich nichts Überraschendes. In der Hauptstadt der Sonderlinge gibt es eben nicht nur High-Techn-Jünger, sondern auch notorische Nostalgiker, wie jenen ausgemusterten BVG-Fahrer, der noch heute in der U-Bahn seinen Mitmenschen sämtliche Haltestellen inklusive Umsteigemöglichkeiten verkündet. Oder erinnern wir uns an Walter Momper. Keine Gelegenheit ließ der Mann mit dem roten Schal aus, um, mit Eisenbahnkelle und BVG-Mützchen bewaffnet, das Herz der Schienenfuzzis höher schlagen zu lassen. Damit bereitete Momper bereits den Erfolg des S-Bahn-Videos vor, das mit 100.000 Exemplaren noch vor dem Schloß-Video rangiert.

Kein Wunder also, daß mit dem Publikumserfolg der S-Bahn-Kassette die ultimative Frage „Provinz oder Metropole?“ endgültig beantwortet ist. Berlin ist eben ein Millionendorf mit einer Millionenschar junggebliebener Männer, die wahrscheinlich noch beim Tête-à- tête mit der neuen Kollegin S-Bahn-Rattern zu Champagner und Kerzenschein servieren. Uwe Rada

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen