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„Kindertraumland“ – ohne Mädchen?

■ betr.: „Faustschläge in Deutsch- Rio“, taz vom 3. 7. 98

Im obengenannten Bericht kommt in den ersten drei Absätzen fünfmal das Wort „Kinder“ vor, das „Kids“ in der Titelunterzeile nicht mitgezählt. Das impliziert beim Lesen, es gehe in dem Artikel um eine Bevölkerungsgruppe, die nach allgemeiner Definition junge Menschen beiderlei Geschlechts unterhalb der Grenze zum Erwachsenenalter beziehungsweise zum 14. Lebensjahr umfaßt. Weit gefehlt. Bei fortschreitender Lektüre wird deutlich, es geht ausschließlich um männliche Vertreter dieser Gruppe. Auch die genannten Erwachsenen, die in dem beschriebenen Projekt Aktivspielplatz Raitelsberg arbeiten, sind ausschließlich Männer. Falls Mädchen und Frauen an diesem Projekt beteiligt sind, werden sie mit keinem Wort erwähnt. Die einzigen im Artikel vorkommenden weiblichen Menschen sind mehrere Mütter, die, in Abwesenheit, vom dienstältesten Sozialarbeiter als unfähig deklariert werden.

Man verstehe mich nicht falsch: Nichts gegen eine Berichterstattung, die spezifiziert. Zum Beispiel über das Sozialverhalten von Jungs auf einem Abenteuerspielplatz, ihre Probleme mit und durch Aggression und die Formen, die männliche Betreuer entwickelt haben, um damit umzugehen (in diesem speziellen Fall, Formen, die die Brutalität weiter am Laufen halten; dies nur am Rande).

Wozu aber dann die irreführende Begriffwahl „Kinder“? Und wenn es denn ein Bericht werden sollte, der nicht ausschließlich auf die Beschreibung männlicher Sozialisationsstrukturen abzielt, wo ist er, der „andere Teil“ der Gesellschaft? Die Mädchen auf dem Spielplatz, die Sozialarbeiterinnen – wie gehen sie mit den Problemen um; wie verhalten sie sich angesichts der Situation innerhalb des Spielplatzprojekts; wie werden die Verhältnisse zu Hause verkraftet; reagieren die Mädchen ebenfalls mit wachsender Aggression und wenn nicht, welche Wege haben sie gefunden, um sich abzureagieren; welche Rolle spielt Gewalt gegen Mädchen und Frauen auf dem Spielplatz? Betrifft das Wegsehen der Pädagogen bei Schlägereien unter Gleichaltrigen ausschließlich Konflikte unter Jungs? Viele Fragen. Auch die, wie die vorliegende Reportage zustande gekommen sein könnte:

Ich sehe sie regelrecht vor mir, die beiden schlaksigen, verschüchterten Jungjournalisten, die mit hochgezogenen Schultern und unsicherem Lächeln vor dem bärigen, altgedienten Sozialarbeiter stehen, der sie dann durch das Gelände scheucht und dabei ohne Unterlaß auf sie einredet, unbekümmert ihrer vorsichtig angebrachten Fragen nach den Kindern und ihrer Situation. Anschließend zwingt er die beiden, sich Notizen zu machen über die verantwortungslosen, schlampigen Mütter, mit deren gestörten Söhnen er sich seit 20 Jahren abplagen muß, um ihnen beizubringen, wie man die Hackordnung richtig einhält. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, entreißt er am Ende dem Fotografen seinen Apparat, als dieser eine Gruppe Jungen und Mädchen ablichten will, die gerade die Tiere füttern. Statt dessen hält er auf die abgebildeten Jungs und verknipst gnadenlos den ganzen Film. Unseren beiden bleibt nur noch, mit hängenden Ohren in die taz-Redaktion zu flüchten, wo sie der Redaktionsassistentin ihr schreckliches Erlebnis berichten, während die ihnen einen Kamillentee kocht.

Oder – letzte Frage – sollte es sich doch um einen Fall von schlichter Ignoranz handeln? Chris Schweikart,

Frankfurt/Main

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