: Mit Ekel beschrieben
betr.: „Der Himmel kann warten“, taz vom 21. 8. 99
Reportage ist Reportage. Die darf subjektiv sein. Klar. In diesem Fall ist sie auch noch mit literarischen Ambitionen geschrieben. Schön. Und wenn der Autorin die Polen nun einmal nicht gefallen – auch o.k. Sie sieht eben nur das, was sie sehen will: eine wasserstoffblondierte Polin, „den Hamster“ (nach zweimaligem Lesen habe ich verstanden, dass damit tatsächlich ein Kind gemeint ist), ausgemergelte Junkies, nur „inländisch“ sprechende Polen, Frauen in rotem Latex, einen alten Mann mit selbstgebasteltem Marienepitaph. Sicher hat die Autorin auf ihrer Reise auch andere Polinnen oder Polen getroffen, aber erwähnenswert fand sie eben die Genannten, und beschrieben hat sie sie mit Ekel.
Die Autorin hat jedoch nicht nur subjektive Eindrücke auf dieser Reise gesammelt, sondern sie hat auch eine Meinung und trifft Verallgemeinerungen. „Die Gottesfürchtigkeit fast überall in Polen treibt keine Flut davon“ (gemeint ist die Hochwasserkatastrophe an der Oder). Das kann man zumindest grammatisch in zweierlei Weise verstehen: dass noch nicht einmal die große Flut die Gottesfürchtigkeit vertreibt (Kommentar überflüssig), oder dass die Polen im Unterschied zur Autorin denken, der Oderflut mit Gottesfürchtigkeit begegnen zu können. Ich kann mich an eine Reportage im Fernsehen erinnern, in der eine deutsche Korrespondentin ebenfalls meinte sagen zu müssen: „In Brandenburg wird mit allen Kräften der Deich verstärkt, während man in Slubice betet.“
Während die Autorin auf der Heimfahrt im Zug darüber sinniert, „ob über diese Schienen wohl auch die Transporte zu den Konzentrationslagern gingen“, lachen die übrigen polnischen Mütter und Töchter im Abteil und lesen Frauenzeitschriften. Im Unterschied zur (deutschen) Autorin haben die polnischen Mitreisenden offensichtlich vergessen, dass Auschwitz nahe bei Krakau liegt. Das ist eben der Unterschied zwischen Polen und einer deutschen Journalistin, die zum ersten Mal nach Auschwitz fährt und feststellt, „Arbeit macht frei“ steht dort tatsächlich ... Ruth Henning, Potsdam
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