Patchwork der Erinnerungen

■ Ulrich Peltzer liest heute im Literaturhaus aus seinem Roman „Alle oder keiner“

Der Hintergrund ist nicht ungewöhnlich: In seiner Jugend war Bernhard in linken Gruppen aktiv und diskutierte den Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Kapitalismus. Heute arbeitet der Diplompsychologe an einem Handbuch der forensischen Methoden und begutachtet die Schuldfähigkeit gestörter Straftäter. Finanziell geht es ihm blendend; seit drei Jahren lebt er mit der Marktforscherin Evelyn zusammen.

Mit Alle oder keiner hat Ulrich Peltzer einen Roman geschrieben, der sich trotz passenden Lebenslaufs des Erzählers nicht zur schulterklopfend-zynischen Selbstbestätigung für mittlerweile etablierte Ex-Linke eignet. Vielmehr geht es in Alle oder keiner um die Schwierigkeit, sich auf die persönlichen Veränderungen, in die man irgendwie hineingeschlittert ist, einen Reim zu machen.

Mittlerweile steht Bernhard dem gediegenen Leben zwischen Designermöbeln und teurem Weißwein genauso fremd gegenüber wie den noch lebendigen Erinnerungen an den politischen Aktivismus der Vergangenheit: „Ein geregelter Ablauf hat die Tage verschlungen...“ Der Text ist die ungefilterte Bestandsaufnahme dieses verunsicherten Ichs. Übergangslos reihen sich Straßenkampfszenen im Baskenland, Psychokongresse, Kindheitserinnerungen, Kneipentouren, forensische Tests und Besuche bei der kranken Mutter aneinander.

Dabei sind es die unmittelbaren Wahrnehmungen, die Peltzer seinen psychologisch geschulten Erzähler in den Mittelpunkt rücken lässt – stets bemüht, den Gedankenfluss nicht einer geraden Story entsprechend zu verfälschen: „Meine Erinnerung ist kein historisches System oder eine logische Tabelle, vielleicht so eine Art Filter, der sinnliche Einheiten nach mir verborgenen Regeln aussiebt.“ Erst allmählich ergibt sich eine Zeitebene, von der zurückgeschaut wird. Und auf der findet dann tatsächlich so etwas wie Entwicklung statt.

Wenn am Ende des Romans Bernhard von seiner neuen Freundin Christine gefragt wird: „Erinnere dich mal...und erzähl mir, das dürfte doch nicht so kompliziert sein, wie geht die Geschichte?“ – dann wird nicht nur klar, dass Peltzer auf enorm spannendes erzählerisches Terrain vorgedrungen ist, sondern eben auch, dass jeder Identitätskonstruktion ein narratives Verfahren zugrunde liegt. Meistens ist dieses jedoch erheblich simpler gestrickt. Michael Müller

heute, Literaturhaus, 20 Uhr

Ulrich Peltzer, Alle oder keiner, Amman Verlag, Zürich 1999, 244 Seiten, 36 Mark