: Mit Hr. Sengstake auf Zeitreise
■ Im KITO wird das „Lebenswerk“ des Karikaturisten und Bremer Stadtzeichners Volker Ernsting gezeigt
Auf den Ehrentitel „Stadtzeichner“ reagiert er eher irritiert, aber widersprechen mag der erstaunlich sanft und schüchtern wirkende Volker Ernsting dann doch nicht. In den 70er und frühen 80er Jahren waren sein „Herr Sengstake“ - seine Freimarktsbilder - und die Stadtansichten, in denen sich „typische“ Bremer Menschen und Möwen mit Fischgräten im Schnabel tummelten, in der Stadt allgegenwärtig. Wildfremde Hanseaten sprachen den Zeichner darauf an: sie wollten sich darin höchstpersönlich wiedererkannt haben. Auch hier wusste Ernstling, dass es sinnlos war, zu widersprechen. Das höchste Lob kommt wohl vom alternativen Stadtzeichner der taz Til Mette, der im Katalog zur Ausstellung zugibt: „Er hat im Gegensatz zu mir den Bo-gen raus, wie man den Bremer und die Bremerin karikiert“. Unser Til ist ja nun auch eher ein Cartoonist, und dieser Unterschied ist Ernsting wichtig: „Ich bin ein Karikaturist, die können auch Cartoons zeichnen, während ein Cartoonist keine Karikaturen machen kann.“
Die besondere Eigenart von Ernstings Karikaturen liegt aber darin, dass seine Opfer sich fast immer gerne darin wiedererkennen. Helmut Schön klebte bei der Fußballweltmeisterschaft 1974 nicht die Namen der Spieler an die Zimmertüren, sondern Ernstings Portraits von ihnen, Klaus Schütz ging zum Ohrenarzt, als er auf der Karikatur von Ernsting einen „Knubel“ an seinem Ohr entdeckte, und man möchte wetten, dass an den Wohnzimmerwänden von Otto, Erik Ode, Inge Meisel oder Eduard Zimmermann die gerahmten Titelbilder aus der „Hör Zu“ (zu der Ernsting ohne viel böses Blut dirket von der Pardon wechselte) einen Ehrenplatz haben. „Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich Helmut Kohl in den Griff bekam!“ sagt er ganz bescheiden, aber wer sonst in dieser Republik kann das von sich behaupten. Nur Rudi Carrell war sauer, weil Ernsting in einer Bildgeschichte leise andeutete, der holländische Wahlbremer würde viele seiner Gags klauen. Hat halt keinen Humor, der Mann!
In der großzügig auf zwei Etagen gehängten Ausstellung im KITO werden zwar Zeichnungen aus den Jahren –53 bis –95 gezeigt, aber der Großteil der Werke stammt aus den 70ern und 80ern. Und hier hat man fast das Gefühl, eine Zeitreise zu unternehmen. Mann/Frau kann wohl kaum zu dieser Zeit in Deutschland (und natürlich ganz besonders in Bremen) gelebt haben, ohne sich an den Ernsting-Touch zu erinnern. Und nun hängen sie hier alle beieinander, die Prominenten einer Zeit, in der noch jeder die gleichen Sendungen im Fernsehen sah, in der die deutsche Nationalmannschaft im Fußball noch etwas galt, und in der in fast jedem Haushalt die „Hör Zu“ neben dem Fernsehsessel lag. Viele Zeichnungen erkennt man direkt wieder, bei anderen bekommt man einen konzentrierten Panoramablick auf den damaligen Zeitgeist geboten (Adamo, Abba, Catarina Valente und die Biene Maja auf einem der berühmten „Wimmelbilder“ von 1976), und bei allen fällt die gleiche Grundstimmung auf: So wie Ernsting es zeichnete, war dieses Deutschland eine in freundlichen Farben leuchtende, noch verstehbare, und deshalb auch heile Welt. Er war alles andere als unkritisch, der „Kurier am Sonntag“ feuerte ihn in den frühen 80ern nach wenigen Wochen wegen seiner zu zeitkritischen Cartoons, aber sein Strich selber war und ist immer heiter ironisch, optimistisch und aufs schrullige Detail konzentriert. Die Mundwinkel sind fast immer nach oben gezogen, und der Senf ist Herrn Sengstake noch nicht von der Wurst aufs Jackett gekleckert. Wilfried Hippen
Die Ausstellung ist bis zum 12.6. täglich außer Montag im Vegesacker KITO von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Kurator Peter Körtje hat sich nicht nur durch einen Wust von vielen Tausenden Ernsting-Zeichnungen durchgefressen, sondern einen schönen Katalog konzipiert, mit vielen erinnerungsseligen O-Tönen von einstigen Hör Zu- und Pardon-Mitstreitern statt kunstwissenschaftlichem Quirlequark
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