Verteidigerin Mitteleuropas

Prag zu Zeiten der Charta 77: Diese Stadt ist schmerzhaft schön, schreibt Libuše Moníková. Sie starb, bevor sie ihren letzten Roman beenden konnte – das nachgelassene Fragment „Der Taumel“

von DIEMUT ROETHER

Es sollte ihr letztes und wichtigstes Buch werden. Als die aus Tschechien stammende, deutsch schreibende Autorin Libuše Moníková mit der Arbeit an „Der Taumel“ begann, wusste sie, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie war soeben operiert worden, am Gehirn, „knapp am Sprachzentrum vorbei“, wie sie an ihre Freundin Erica Pedretti schrieb. Während sie beim Reden noch mühsam nach den Worten suchte, saß sie schon wieder an einem neuen Roman: „Ich wüsste nicht, was ich ohne das neue Buch anfangen sollte. Es wird über 400 Seiten haben und alle meine Kraft kosten.“ Dieser Roman sollte – wie ihr Verleger Michael Krüger im Nachwort zu „Der Taumel“ schreibt – neben der 1987 veröffentlichten „Fassade“ das zweite Hauptstück in ihrem Werk bilden.

„Der Taumel“ blieb unvollendet. Als Libuše Moníková im Januar 1998 starb, waren knapp 200 Seiten des Buchs fertig. 170 Seiten eines Romans, der plötzlich abbricht, dazu hat der Verlag noch ein paar Skizzen weiterer Szenen veröffentlicht. Ein Buch, das endet wie das Leben der Autorin: zu früh. Mittendrin. „Der Taumel“ spielt wie die meisten Bücher der Autorin in Böhmen, in Prag, der Stadt, die sie 1971 verließ, obwohl sie von ihr besessen war. Doch die gedrückte Atmosphäre in dem vergewaltigten Land nach der Niederschlagung des Prager Frühlings hielt sie nicht länger aus. „Die Stadt ist magisch und gleichzeitig sehr konkret, von einer fast schmerzhaften Schönheit und einer Jugend, die ihre Freiheit probt – ohne Vorbilder, ernst und realistisch“, schrieb sie in ihrem Essay „Prager Fenster“.

Dieser „klugen Prager Jugend“ hat sie auch in ihrem letzten, Fragment gebliebenen Roman noch einmal ein Denkmal gesetzt: Dora und Tina, die Aktmodelle des Malers Jakub Brandl, fallen regelmäßig in sein ärmliches Atelier ein, „plündern seinen Kühlschrank, krümeln“, stöbern kichernd in seinen Büchern, diskutieren über den künstlerischen Wert der Bilder Salvador Dalís oder Giorgio de Chiricos und den schädlichen Einfluss von Künstlerfrauen oder lassen sich von Brandl die Lebensgeschichten berühmter Maler erzählen. Geschichten, die Moníková Gelegenheit geben, abzuschweifen zu ihren typischen Exkursen, die all ihre Bücher kennzeichneten. Dank Jakub Brandls Erzählungen werden Dora, Tina und die Leser Zeuginnen des legendären „Banquet Rousseau“, das Picasso 1908 zu Ehren des Malers Henri Rousseau, genannt „der Zöllner“, in seinem Atelier ausrichtete. Ein Fest, das in punkto Surrealismus und Dadaismus späteren Happenings in nichts nachstand.

Mit Geschichten wie diesen entflieht Jakub Brandl der tristen Prager Wirklichkeit Ende der Siebzigerjahre. Es ist die Zeit der Charta 77. Im Gewirr der Altstadtgassen treffen sich Schriftsteller und Intellektuelle, lesen sich vor, spielen gemeinsam Musik und Theater. Die Spitzel werden nervös, weil sie merken, dass die Menschen plötzlich keine Angst mehr haben. Wie eine Figur von Kafka wird Jakub Brandl immer wieder zum Verhör vorgeladen, ohne zu erfahren, was ihm – außer mangelnder Kooperationsbereitschaft – überhaupt vorgeworfen wird. Brandl hat nichts zu sagen, will niemanden verraten, auch nicht den politisch missliebigen Aktionskünstler, der ihm mit seiner lärmenden Betriebsamkeit auf die Nerven geht. Der Blick des Malers wandert durch das Fenster des tristen Büros, in dem der Major sich vergeblich bemüht, etwas aus ihm herauszuholen, die dunklen Wolken am Himmel erinnern ihn an Hercules Seghers, einen niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts. In solchen Szenen wird greifbar, was das so harmlos klingende Wort von der „inneren Emigration“ bedeutet. Noch einmal erinnert Moníková an die Opfer der so rasch in Vergessenheit geratenden Teilung Europas. Es war typisch für sie, dass sie sich dem Prag der Gegenwart nicht zuwenden konnte, solange sie mit dem der Vergangenheit nicht abgeschlossen hatte.

Die Frage „ausreisen oder bleiben?“ stellt sich für Jakub Brandl nicht. Er will nicht fort, doch er will auch nicht leben in dieser Stadt, in der keiner dem anderen mehr traut, weil jeder ein Spitzel sein könnte. Der Maler reist mit seinen Büchern und Bildbänden, mit Geschichten – getreu dem Satz Arno Schmidts, den sich auch Libuše Moníková zum Wahlspruch erkor: „Wer nicht liest, kennt die Welt nicht.“ Die Welt ist für Jakub Brandl Literatur und Kunst: Madrid steht für Velázquez und Goya, Arezzo für die Madonnenbilder Piero della Francescas, Brüssel für Bosch und Bruegel.

Der Maler, der an der „fallenden Krankheit“ leidet, wie Moníková die Epilepsie in ihrem Buch nennt, taumelt zwischen Verhören, Anfällen und Kunstunterricht. Seine Heimat ist wie bei so vielen Romanfiguren der Autorin das Zwischenreich der Fantasie. Erzählend, träumend durchstreifen sie die Kontinente und Zeiten, graben wie Archäologen längst verschüttete Mythen und Geschichten aus und deuten sie in ihren Erzählungen neu. Diese Neu-Erzählungen waren Libuše Moníkovás Kennzeichen und ihre Stärke – neben den Skizzen von Landschaften und Städten, etwa des Prags des Mangels, das sie in „Der Taumel“ beschreibt. Kritiker haben das Episodische ihres Schreibens häufig bemängelt, dabei war es Teil ihres antitotalitären Konzepts von Literatur. Denn das Anliegen dieser tschechisch-deutschen Schriftstellerin war es, die Geschichte aus der Sicht der Verlierer und der Verschütteten – auch der Frauen – neu zu erzählen: anekdotisch, sprunghaft und mit dem ihr eigenen subversiven, „typisch tschechischen“ Sinn für Humor.

In „Der Taumel“ begegnet uns Moníková ein letztes Mal als Verteidigerin Mitteleuropas: „Ein versteinerter Wald. Böhmen am Meer, Schlamm!“, so beschreibt Jakub Brandl das Bühnenbild, das er einer polnischen Künstlerin für eine Inszenierung an einem Pariser Vororttheater vorschlägt. Eine deutliche Anspielung auf Shakespeare und Ingeborg Bachmann, mit denen Libuše Moníková – wie viele Tschechen – die Utopie eines „Böhmen am Meer“, eines weit zu fassenden mitteleuropäischen Sprach- und Kulturraums, teilte. Der Austausch zwischen Tschechen und Deutschen, das alltägliche Miteinander war ihr mehr noch als die politische Aussöhnung ein Anliegen. „Der Taumel“ ist eine Möglichkeit, sich noch einmal von dieser Autorin durch Prag, Böhmen und die Welt führen zu lassen – um dann die Reise mit ihren früheren Büchern fortzusetzen.

Libuše Moníková: „Der Taumel“. Hanser Verlag, München 2000, 200 Seiten, 34 Mark