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: WLADIMIR KAMINER über die Russendisko in der Provinz

Schrapsberg ist, wo Schriftsteller aufs Kreuz gelegt werden

Seit zehn Jahren lebe ich in Berlin, und jedes Mal, wenn ich mit mehreren Leuten zusammensitze und wir über Deutschland reden, höre ich: „Du kennst dieses Land nicht, der Prenzlauer Berg – das ist nicht Deutschland, du hast keine Ahnung, was hier wirklich los ist.“ „Was ist denn der Prenzlauer Berg, wenn er nicht Deutschland ist?“, fragte ich neulich einen Radiomacher von Radio Fritz. Er überlegte kurz und sagte: „Schwabenland im Herzen Europas.“

Nun ist mein Buch „Russendisko“ da und somit die günstige Gelegenheit, das Land auf Kosten etlicher Buchläden endlich kennen zu lernen. Ich fahre nach Langen und Wellmar, nach Weinberg und Hamm und lese vor kleinem Publikum. Selbst meine deutschen Freunde wissen nicht immer, wo diese Städte überhaupt liegen. Ich bin überall herzlich willkommen, doch die Russendisko ist nirgendwo eine Überraschung mehr. Selbst in der tiefsten Provinz haben die Omas und Opas von der Russendisko schon die Nase gestrichen voll. Meine Landsleute, die es in jedem kleinen deutschen Dorf mittlerweile gibt, haben mir den Überraschungseffekt versaut. Wohin das Auge blickt, findet man Russen und Russendiskos – an den unterschiedlichsten Orten. In Schrapsberg war es zum Beispiel ein italienisches Restaurant. Dort habe ich ein Mädchen namens Viktoria kennen gelernt. Sie ist 18, kommt aus dem sonnigen Kirgisien und jetzt mit den Italienern gut klar. Gleich nachdem diese Viktoria eingestellt hatten, merkte sie, wie leicht sie Italienisch verstand. Viele Wörter sind dem Kirgisischen total ähnlich, behauptet sie. Das konnte ich mir kaum vorstellen und fragte sie, ob die Italiener wirklich aus Italien wären und nicht vielleicht doch aus Vietnam? Sie durfte aber nicht so lange mit den Gästen reden, die Besitzer des Lokals hatten Viktoria ständig im Blick.

Also spülte sie schweigend die Gläser ab, und ich erzählte ihr, dass ich eigentlich ein Schriftsteller aus Berlin sei, dazu auch noch ein Russendisko-Betreiber und dass ich sie zu meiner Lesung heute Abend einlade – in die Buchhandlung. Die könne man gar nicht verfehlen, denn in Schrapsberg gebe es ja nur zwei große Häuser – das italienische Restaurant und die Buchhandlung schräg gegenüber. Viktoria ließ sich von dem Schriftstellerkram nicht beeindrucken und sagte höflich ab. Sie halte nämlich nicht viel von Literatur, meinte sie. Außerdem sei sie gestern von zwei jungen Türken auf der Straße angepöbelt worden, die hätten ihr auch erzählt, sie wären Schriftsteller und ihr dann nur Schweinereien ins Ohr geflüstert. Und eine Russendisko – die gab es hier auch schon: in Weinberg, 20 Kilometer von Schrapsberg entfernt – jeden Samstag ab 18 Uhr 30.

Ende letzten Jahres wurde sie von der Polizei geschlossen, weil es dort regelmäßig zu Schlägereien zwischen Russen und Türken gekommen war. Nun hängen die Jungs das ganze Wochenende draußen rum. Aber sie, Viktoria, habe vor ihnen keine Angst. Seit zwei Jahren gehe sie zusammen mit ihren Freundinnen zur Kickbox-Schule – in Weinberg. Die Mädchen würden fleißig trainieren und könnten inzwischen fast alle Schriftsteller in der Gegend über den Haufen werfen, behauptete Viktoria. Am nächsten Tag fuhr ich von Schrapsberg zurück nach Hause in den Prenzlauer Berg, wo die Russendisko zum Glück noch immer angesagt ist.