Demonstrativer Meiler-Stein

Vor 20 Jahren protestierten 100.000 Menschen gegen das AKW Brokdorf – trotz Verbotes. Darauf folgte ein Verfassungsgerichtsurteil, das heute Neonazis ausnutzen  ■ Von Magda Schneider

Wenn heutzutage Neonazis aufmarschieren, ist die Staatsmacht redlich bemüht, ihnen den Weg frei zu machen. Bahnhöfe werden gesperrt, U- und S-Bahnen gestoppt, als „Sonderfahrt“ umdeklariert und ausschließlich für die Rechten reserviert; notfalls werden Busse bereitgestellt, wenn es keinen Bahnhof in der Nähe gibt. Begründet wird der staatliche Eifer mit der umfassenden Demonstrationsfreiheit, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1985 im legendären „Brokdorf-Beschluss“ neu definierte, als es das Demonstrationsverbot vom 28. Februar 1981 am Atomkraftwerk Brokdorf für „rechtswidrig“ erklärte.

Damals hatten die Staatsorgane sich jegliche Schikane einfallen lassen, um Menschen von ihrem Recht auf Demonstration abzuhalten. Nachdem im Januar 1981 der Baustopp für den Atommeiler gerichtlich aufgehoben worden war, deutete sich schnell an, dass Zehntausende zur Demo in die Wilstermarsch strömen würden. Brokdorf war in der Anti-Atom-Bewegung zum „Symbol des Widerstandes“ geworden. Allein in Hamburg demonstrierten wenige Wochen zuvor 12.000 Menschen vor einem SPD-Sonderparteitag, auf dem sich die GenossInnen gegen den Weiterbau des Meilers aussprachen.

Auf Druck des damaligen schleswig-holsteinischen Innenministers Uwe Barschel (CDU) verhängte der Landrat des Kreises Steinburg für den 28. Februar ein Demoverbot über die Wilstermarsch, weil „anreisende Chaoten Bauernhöfe anzünden“ könnten. Auf Klage der Bürgerinitiativen hob das Verwaltungsgericht Schleswig dieses Verbot zwar tags zuvor bis auf einen Sperrgürtel um den Meiler wieder auf. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg stellte jedoch in den frühen Morgenstunden des 28. Februar das generelle Demoverbot wieder her – zu diesem Zeitpunkt befanden sich Zehntausende bereits auf der Anfahrt.

Aber auch andere Finessen ließen sich die Staatsorgane einfallen, um den Widerstand zu brechen. So wurde dem Hamburger Gewerkschafterkonvoi wenige Tage vor der Demo auf Druck des Hamburger Senats von der städtischen Firma Jasper die gemieteten Busse gekündigt. Als bei den Braunschweiger Verkehrsbetrieben neue Busse geordert wurden, intervenierte der Hamburger Staatsschutz mit massiven Drohungen.

Und so kam es, dass die meisten DemonstrantInnen in kilometerlangen PKW-Konvois anreisen mussten. Bereits in den Morgenstunden des 28. Februar waren die Autobahnen blockiert, weil tausende Autos in Polizei-Kontrollen festsaßen. Die Anfahrtwege direkt in den Kreis Steinburg waren mit Panzersperren oder Containerblockaden abgeriegelt. Über Feldwege, vereiste Wiesen und mit provisorischen Brücken gelang es jedoch immer mehr Menschen, die Wasserläufe und Gräben zu überwinden und trotz eisiger Kälte – es herrschten minus 20 Grad – in das Sperrgebiet zu marschieren.

Der Druck auf die Polizei nahm dermaßen zu, dass gegen Mittag eine Sperre bei Dammfleth aufgegeben werden musste und die Menschen seitdem ungehindert zum Bauplatz strömten. Die insgesamt 10.000 PolizistInnen zogen sich auf den mit Zäunen und Natodraht zur Festung ausgebauten Bauplatz zurück. Über 100.000 demonstrierten trotz des Verbotes in der Wilstermarsch, nur unterbrochen von ohrenbetäubendem Lärm tieffliegender Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes, die Jagd auf einzelne Personengruppen machten. Mit Tränengas und Wasserwerfern versuchte die Polizei mehrfach, die Straßen vor dem Bauplatz des Atomreaktors zu räumen – vergeblich.

Als Reaktion auf den Protest setzte eine Welle der Kriminalisierung ein. So fahndete die Staatsanwaltschaft Itzehoe wochenlang nach zwei Demonstranten wegen „Mordversuchs“. Sie hatten einen Beamten eines Spezialkommandos, der in einen Wassergraben gefallen war, mit Schaufel und Spaten auf seinen Helm geschlagen. Er war unverletzt geblieben.

Erst 1985 brachte das BVerfG durch seinen Spruch Klarheit: Es erklärte die einschränkenden Polizeimaßnahmen und das Demonstrationsverbot für rechtswidrig. Die Verurteilungen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz wurden korrigiert, und auch die Urteile gegen die vermeintlichen Schaufel- und Spatenschläger revidiert.

Was die Karlsruher Richter bei ihrem – unter JuristInnen bis heute als Höhepunkt liberaler Verfassungsrechtsprechung geltenden – Brokdorf-Beschluss damals nicht ahnen konnten: Inzwischen nutzen ihn Neonazis als Persilschein für ihre Aufmärsche und eifrige Polizeistrategen, um aus der Ordnungsmacht ein Logistik-Unternehmen für rechtsextreme Aufmärsche zu machen.