Im Osten in besonderer Mission

Seit Jahren setzt sich Bundestagspräsident Thierse mit großem Engagement gegen Rechtsradikalismus ein. Vergangene Woche war Termin auf Usedom

aus Ahlbeck ANNETTE ROGALLA

Vollkommen unbewegt sitzt Wolfgang Thierse hinter dem Mikrofon und bittet: „Bleiben Sie doch da, diskutieren Sie mit uns, und laufen Sie nicht so feige weg.“ Der Bundestagspräsident erreicht die Angesprochenen nicht mehr. Gerade haben sie „SPD – Arbeiterverräter“ gerufen und Flugblätter verstreut auf denen „Arbeit macht frei“ steht. Und nun machen sie sich an den Polizisten vorbei aus dem Staub. Sitzen ja noch genügend Kameraden auf den harten Holzbänken der Mehrsporthalle. Sollen die sich doch mit Thierse und den anderen Politikern da vorne auf dem Podium streiten.

Im Ferieonort Ahlbeck auf der Insel Usedom, wo im vergangenen Sommer Neonazis einen Obdachlosen totgetreten haben, beginnt die Diskussion um Rechtsradikalismus.

Einen Redebeitrag zumindest ist der brav gescheitetelte Sebastian Werner seinen Anhängern schuldig. Er feuert Reizworte ab. Sagt etwas von „Milliarden, die in die Holocaust-Industrie transferiert werden“, von „Arbeitsplätzen, die die nationale Bewegung schaffen will“, und lässt auch nicht aus, darauf hinzuweisen, dass „die Mörder von Ahlbeck keine Rechtsextremen sind“. Thierse schluckt und greift zum Mikro. Aber das hat ihm Bürgermeister Hans-Joachim Mohr schon weggeschnappt. Die Ungeheuerlichkeiten, den Antisemitismus – das alles nimmt Mohr nicht zur Kenntnis. In warm-klebrigem Tonfall bittet er: „Herr Werner, Sie dürfen nicht verkennen, dass die Mörder von Ahlbeck sich selbst als Rechtsextreme bezeichnen.“ Wolfgang Thierse, SPD, fährt seinem Parteifreund nicht in die Parade; er lässt ihn gewähren.

Was soll er machen, wenn ihm in den ersten Minuten einer Diskussion dieses Milieu entgegenschlägt, das Rechtsradikalismus zwar nicht billigt, aber auch nicht kompromisslos ächtet?

„Jugendliche, die unterwegs sind und noch nicht angekommen sind“ – „Leute, die ein emotionales Problem haben“ – mit ärmlichen Beschreibungen aus dem psychologischen Setzkasten analysieren Pastor und Jugendarbeiter die anwesenden Glatzen und Mitglieder des Kameradschaftsbundes Usedom. „Ich bin gegen Intoleranz, weil ich für Toleranz bin. Ich bin gegen Ausländerhass, weil ich meine, fremde Menschen haben vor dem Grundgesetz und Gott die gleiche Würde.“ Wolfgang Thierse formuliert mit kalter Stimme simple Bekenntnisse, als wollte er der versammelten Provinzprominenz diskret deutlich machen, dass er ihren Verharmlosungsjargon nicht mitmacht.

Das Publikum lässt sich von der leisen Eindeutigkeit fazinieren. „Wir können nicht einfach lieb zu den Rechten sein“, bittet eine Lehrerin. „Wir müssen den Mut haben, gegen sie aufzutreten“. Der aus Berlin zugezogene Rechtsanwalt fordert, „ein Programm von Nulltoleranz zu entwicklen“. Kein Türkenwitz dürfe mehr unkommentiert die Runde machen. „Wir müssen an jeder Stelle eine offene demokratische Haltung bekennen.“

Zwei, drei solcher Aufforderungen reichen und den rund zwei Dutzend Rechten unter den 150 Besuchern wird klar: Hier sagen wir kein Wort mehr. Die Konfrontation mit ihnen fällt aus.

Sie haben die aufmerksame Stille wohl mitbekommen, als ein junger Deutschafrikaner schilderte, dass er sich nur noch im Eiltempo durch die Straßen von Ahlbeck traut, dass er ständig damit rechnet, zusammengeschlagen zu werden, wenn er mit seinen HipHop-Freunden an der Seebrücke Skateboard fährt. Er sagt das so, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Und auch Bürgermeister Mohr hat instinktiv registriert, dass die einfache Schilderung einer fortwährenden Verfolgung die Antwort auf die Frage birgt, mit der er vor 45 Minuten den Abend eröffnet hatte: Rechtsextremismus – was ist das?

Wer nach Antworten sucht, muss sich mit seinem eigenen Handeln auseinander setzen. Da ist es Mohr schon sehr lieb, der Bundestagspräsident spricht rasch ein Schlusswort.

Dass bestimmte Verhältnisse nach und nach als normal angesehen werden, davor will er noch einmal ausdrücklich warnen. Er schildert eine Situation, wo mehrere Taxifahrer gesehen haben, wie ein Ausländer zusammgeschlagen wurde. Keiner von ihnen rief aus sicherer Entfernung über Funk einen Krankenwagen. „So etwas ist entsetzlich“, klagt Thierse und bittet: „Schauen Sie nicht weg, wenn ein anderer gequält wird. Holen Sie Hilfe.“

Seit 1999 unternimmt der Bundestagspräsident solche Fahrten in den Osten. Das Problem ist eher schlimmer geworden, hat er beobachtet. Sein Appell in Ahlbeck fällt missionarisch schlicht aus.