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Das Leben als Genspiel betrachtet

betr.: „Kein Dammbruch“, taz vom 25. 5. 01

Eines zeigt die Debatte um die Freigabe embryonaler Stammzellen für die deutsche Wissenschaft klar: Einen ethischen Maßstab gibt es nicht mehr. Erstaunlich ist es deshalb, in der taz einen Diskussionsbeitrag zu finden, der den wirtschaftlichen Interessengruppen bei der Vertuschung dieser Tatsache zu Hilfe eilt.

Es ist zum einen fraglich, ob die Versprechen der Biowissenschaften ernst zu nehmen sind, das heißt, ob „der nicht perfekte Mensch“ aus ihr Hoffnung schöpfen darf. Bisher gibt es keine eigentliche Gentherapie. Das „Neuprogrammieren“ adulter Stammzellen wurde noch nirgendwo erfolgreich vorgemacht. Die Versprechen der Biotechnik liegen bisher nur in deren zweifelhaften Diagnosemöglichkeiten. So trägt zum Beispiel ein großer Teil von uns „das Gen“ in sich, das bei epileptischen Anfällen aktiv ist. Nur ein winziger Bruchteil von uns ist allerdings von dieser schlimmen Krankheit geplagt. Eine wirksame Beschreibung der Mechanismen, die entscheiden, bei wem der entsprechende DNA- Abschnitt letztlich wirksam wird, gibt es noch nicht. Man kann sogar behaupten, dass er unter dem reduktionistischen Paradigma der Molekularbiologie nicht interessiert. Insofern ist die Hoffnung – Heilung für die Blinden, Lahmen und Aussätzigen – nichts als ein Versprechen einer Forschungsindustrie, die auf öffentliche Gelder und Investitionen von Pharmakonzernen angewiesen ist. Daraus eine ethische Handlungsnorm beim Umgang mit Stammzellen herzuleiten, ist ethisch im strengen Sinne unsinnig.

Bei Urbach wie im Kanzleramt ist die eigentlich ethische Entscheidung längst gefallen: Leben ist mechanistisch und materialistisch als Genspiel, Zellteilung und Proteinsynthese vollständig beschrieben. Was ist der Mensch? Das ist die Frage, die sich jede Ethik, so sie für uns alle und für die uns umgebende Natur verbindlich sein will, zuallererst zu stellen hat. Wer diese Frage schon beantwortet hat, für den tut’s zur Not auch ein Kanzler, ein Parlament, ein Verfassungsgericht oder ein mahnender Bundespräsident, die über ein paar herrenlose (und frauenlose – auch wenn die Rechtschreibprüfung hier zickt) Zellen in den Laborschränken von biotechnischen Instituten als „ethische Frage“ der Wissenschaft zu befinden haben. MARTIN BOTH, Köln

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