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: WLADIMIR KAMINER über Antragsformalitäten

Das wilde Ferkel Sebastian und die Ausländerbehörde

Seit einiger Zeit bekommt mein zweijähriger Sohn Briefe, die an ihn persönlich adressiert sind. Nicht irgendwelche Liebesbriefe von seinen Kitakumpeln, sondern offizielle Anschreiben von der Ausländerbehörde. „Sehr geehrter Herr Sebastian“, steht da, „seit beinahe zwei Jahren befinden sie sich illegal in Deutschland. Das geht so nicht, rufen Sie uns so schnell wie möglich an. Hochachtungsvoll, Spende.“ Sebastian hat vor kurzem das Telefon als Spielzeug entdeckt und ruft nun dauernd alle möglichen Leute an, in dem er wahllos auf die Tasten drückt. Er hat schnell gelernt, dass hinter jeder Zahlenkombination eine lustige Stimme steckt. Dann hört er aufmerksam zu, doch viel zu erzählen hat er noch nicht. Er grunzt nur freundlich und legt nach einiger Zeit wieder auf. So ein Telefongespräch wäre für Herrn Spende ein schwacher Trost. Also telefonierte ich selbst mit der Ausländerbehörde. Herr Spende erwies sich als eine Frau.

„Sie wissen sicher, Herr Kaminer, dass jedes Kind in Deutschland spätestens fünf Monate nach seiner Geburt einen Kinderpass beantragen muss. Ihr Kind ist nun aber schon zwei Jahre alt und hat sich noch immer nicht bei uns gemeldet.“

„Seien Sie nicht sauer, wir haben es einfach vergessen, weil im Kindergarten nach dem Pass nie gefragt wurde und mit der Polizei oder dem Grenzschutz hat Sebastian auch noch keinen Kontakt gehabt“, verteidigte ich mich.

„Wollen sie mich veräppeln?“, erwiderte Frau Spende wütend.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich fahre jetzt gleich zu Ihnen rüber und beantrage für Sebastian einen Kinderpass“, versuchte ich die Frau zu beruhigen. „Sie werden aber keinen Kinderpass für ihren Sohn bekommen, weil sie und Ihre Frau keine deutschen Staatsbürger sind. Also gilt auch ihr Sohn als Ausländer und muss zuerst eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen“, klärte mich Frau Spende auf.

„Aber er war doch noch gar nicht im Ausland, nur im Bauch seiner Mutter quasi. Seit seiner Entbindung befindet sich Sebastian permanent in Deutschland“, entgegnete ich. „Sie wollen mich schon wieder veräppeln“, meinte Frau Spende beleidigt.

Ich ahnte Schlimmes und fragte Sie, ob ich den „Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung“ nicht aus dem Internet runterladen oder ihn per Post zugeschickt bekommen könne. „Weder noch“, war die knappe Antwort.

Ich musste persönlich den Antrag abholen. Damit setzte ich mich dann zusammen mit Sebastian an den Schreibtisch. Der Antrag bestand aus 27 Fragen, die alle ausführlich beantwortet werden sollten, wie Frau Spende im Gespräch mehrmals betont hatte. Die ersten zehn Fragen betrafen Sebastians Familienverhältnisse – seine Vorstrafen, Exehefrauen und früheren Staatsangehörigkeiten. Ich beantwortete sie schlicht mit der Bemerkung „Kind“. Ab der zwanzigsten Frage wurde es richtig problematisch.

„Was ist der Zweck Ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland?“, las ich Sebastian laut vor. Er grunzte. Er hatte den Zweck seines Aufenthaltes hier noch nicht kapiert.

„Wie lange beabsichtigen Sie in der Bundesrepublik zu bleiben?“, fragte ich meinen Sohn. Sebastian grunzte wieder begeistert. Er mochte das Ausfüllen des Antrags, wollte aber lieber die „wilde Ferkeljagd“ mit mir spielen. Das Spiel geht so: Sebastian versteckt sich als wildes Ferkel hinter einer Gardine, und ich muss als Jäger ganz leise auf Zehenspitzen durch die Wohnung laufen und nach dem wilden Ferkel rufen. Ihn quasi suchen, obwohl es gar nicht nötig ist, weil das Ferkel so laut grunzt, dass die richtige Gardine, hinter der es steckt, gar nicht zu verfehlen ist. Bei diesem Spiel amüsiert sich Sebastian über alle Maßen, und nie kann er genug davon bekommen. Also schrieb ich „Ewig“ in den Antrag. Sofort kamen mir aber Zweifel: Ist „ewig“ nicht doch ein wenig übertrieben? Ich strich das „ewig“ durch und schrieb dafür „lange“.

„Haben Sie vor, eine Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik auszuüben?“ Hmm . . . Ich schaue Sebastian tief in die Augen. Bisweilen sieht es nicht danach aus, aber wer weiß. Ich schrieb vorsichtig „nicht ausgeschlossen“.

Zwei Wochen später war ich wieder bei Frau Spende zu Gast. „Na gut“, meinte sie schließlich, „wir haben auf Sie zwei Jahre gewartet, jetzt werden Sie ein paar Stunden auf uns warten müssen.“ Ich setzte mich in den Warteraum und nahm mir ein dickes Buch aus der Tasche. Doch Frau Spende erwies sich als ein guter Mensch und hervorragender Mitarbeiter. Schon nach zwanzig Minuten wurde ich von ihr wieder reingerufen – und bekam gleich alles auf einmal in die Hand gedrückt: Die Aufenthaltsgenehmigung für Sebastian und einen super dicken neuen Hardcover-Reisepass dazu. Jetzt können wir mit ihm um die ganze Welt fliegen.