Die Volksecke

Im Nachbarschaftsheim am Crelleplatz nehmen Ausländer neben Jugendlichen und Arbeitslosen Platz – und geben zurück, was sie können

von TINA BUCEK

Eugen tippt mit flinken Fingern. Auf dem Monitor nehmen Fassade und Eingangstür des Eckhauses am Crelleplatz Gestalt an. Schließlich leuchtet der Schriftzug „Halk Kösesi“ blau und rot. „Das ist der Name für unser Wohnzimmer in Schöneberg-Nord“, erklärt Eugen stolz. Eine kurze Kopfbewegung weist auf Büro, Durchgangsküche und drei Aufenthaltsräume im Hintergrund. Hier feilt der Mittvierziger schon seit Stunden an der hauseigenen Internetseite. Zeit hat er dafür genug, denn er ist wie viele im Bezirk arbeitslos.

„Halk Kösesi“ – in der Türkei der Dreißigerjahre stand dieser Ausdruck für Volksecken, in denen Lehrer Kurse für die Anwohner veranstalteten. An der Holztür der Crellestraße 38 steht er für Beratungszentrum, Jugendtreff, Seniorencafé, Sprachschule, Computerbörse, Spielhölle, Kummerkasten oder „Anker für alle“, wie Leiterin Anette Maurer den großen Holztisch, die Sofas, Regale mit Spielen und Büchern und selbst gebastelte Pappdrachen unter der Decke liebevoll nennt: „Weil die Leute vom Kiez es eben so benutzen“.

Das Nachbarschaftsheim ist nebenan für die, denen der Weg zu Gemeindehäusern, Volkshochschulen und Bezirksämtern endlos erscheint. Menschen wie Eugen zum Beispiel. Im Rahmen einer Beschäftigungsmaßnahme fand der Familienvater Platz im „Halk Kösesi“. Die ist ausgelaufen, aber er kümmert sich weiter um die Homepage. „Ist doch klar“, meint Eugen.

Oder Aziz: Wie über 50 Prozent der Anwohner des Wohnblocks ist sie Ausländerin. Weil sie Schwierigkeiten in der Schule hatte, stolperte sie vor ein paar Jahren ins Zentrum vor ihrer Haustür. „Wir haben mit ihr Hausaufgaben gemacht, Mathe und Rechtschreibung gepaukt“, erzählt Anette Maurer. Jetzt hat Aziz Abitur und hilft ihrerseits den Kleineren bei Schularbeiten, wenn Schreibkram anfällt – wenn jemand gebraucht wird.

Und weil Menschen Menschen brauchen, ist das so gut wie jeden Tag der Fall. Wenn etwa Ali keine Ahnung hat, wie er seine Bewerbung für eine Ausbildung als Kfz-Mechaniker formulieren soll, dann geht er ins „Halk Kösesi“, fragt einen der vier professionellen Mitarbeiter oder eben Aziz. Oder wenn die Müllhalde gegenüber eigentlich viel besser Spielplatz werden könnte. Als die Bezirksverwaltung auch auf mehrmalige Anfragen untätig blieb, räumten die Nutzer des „Halk Kösesi“ selbst Schutt weg, zimmerten Spielgeräte und bepflanzten die Beete. „Nach zähem Ringen lag dann auch offiziell die Erlaubnis für den kleinen Park auf dem Tisch“, erzählt Anette Maurer.

Auch beim von der Schließung bedrohten Jugendzentrum „Pallast“ mischte sich das „Halk Kösesi“ ein. „Wir witterten die Chance, die üppigen Räume für unsere türkischen Tanzgruppen zu nutzen. Da haben wir eine Kooperation angeboten“, erklärt Maurer. Die Anwohner des Nachbarschaftszentrums strichen Wände, zogen Decken ein und schleppten Mobiliar. Seit zweieinhalb Jahren finden Sprachkurse, Turngruppen oder Jugenddiscos des „Halk Kösesi“ nun im „Pallast“ statt. Nun gehen hier Kinder, Jugendliche und auch ihre Eltern wieder regelmäßig ein und aus.

Ebenfalls auf Initiative des Nachbarschaftsprojektes wurden mehrere Schülerläden und Kitas ins Leben gerufen – weil Kinder aus elf Nationen sich anmeldeten mit spezieller Sprachförderung. An fünf Standorten erstritten Eltern aus dem „Halk Kösesi“ 153 Hortplätze, und „die Warteschlange ist lang“, sagt Anette Maurer.

Warum im „Halk Kösesi“ seit 18 Jahren funktioniert, was an vielen öffentlichen Treffpunkten in sozialen Brennpunkten zu unüberbrückbaren Spannungen, Kriminalität und Gewalt führt? „Bei uns kann jeder rein: Frauen, Männer, Alte, Junge, Kurden Türken, Aussiedler und andere Nationalitäten – pro Tag haben wir 120 Besucher“, meint Anette Maurer. „Keiner wird kontrolliert – oder zu irgendetwas genötigt“, fügt sie hinzu. Und Eugen meint: „Hier ist einfach Platz für mich und das, was ich kann.“