„Die Enttäuschung ist abgrundtief“

Stoiber kann im Osten vom Schröder-Frust profitieren, glaubt der Soziologe Wolfgang Engler. Vorausgesetzt, der Mann aus Bayern erweist sich als lernfähig – und findet eine angemessene Sprache

taz: Edmund Stoiber und Ostdeutschland – passt das kulturell so gut wie Gerhard Schröder zu einer vegetarischen Frühlingsrolle?

Wolfgang Engler: So ungefähr. Aber die Ostdeutschen haben schon einen Sachsen, einen Saarländer, einen Pfälzer und jetzt einen Niedersachsen überstanden. Kulturell gesehen kann das mit einem Bayern nicht schlimmer werden.

Ist Bayern den Ostdeutschen fremd, fremder vielleicht sogar als etwa Nordrhein-Westfalen?

Das glaube ich nicht. Solche regionale Fremdheit ist doch in gewisser Weise normal. Das ist zwischen Berlin und Bayern kaum anders als zwischen Berlin und Sachsen.

Aber die Ostdeutschen wollen immer gern verstanden werden – und Stoiber versteht sie nicht. Er fährt ganz unschuldig zu einem ersten Informationsbesuch in die, wie er sagt, neuen Bundesländer. Das klingt, als reise er nach Mali.

Das ist in der Tat ein Problem von Stoiber. Er versteht den Osten wahrscheinlich noch weniger als Schröder. Die Leute haben nicht vergessen, dass Stoiber bei den Verhandlungen über den Solidarpakt wenig Sympathien für Ostdeutschland gezeigt hat.

Vielleicht ist Stoiber lernfähig.

Warum nicht? Die Schröder-Besuche im Osten waren immer Reisen zu Vorzeigeobjekten. Mit seinem Besuch in Neubrandenburg, einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit, hat Stoiber zumindest angedeutet, dass er vielleicht andere Akzente setzen könnte. Jetzt muss er noch eine Ansprache finden, die der ernsten Lage der Leute angemessen ist.

Kohls Kanzlerschaft ist 1990 und 1994 zuallererst im Osten verlängert worden. Schröder hat seinen Wahlsieg 1998 ganz entscheidend den Ostdeutschen zu verdanken. Darf diesmal Stoiber auf den Osten hoffen?

Die Ostdeutschen sind radikal-moderne Wähler. Sie haben kaum feste Bindungen an Parteien, die PDS ist das einzige politische Milieu, das im Osten existiert. Die Ostdeutschen begründen ihre Wahl nicht mit politischen Programmen oder dem politischen Personal, sondern immer häufiger mit nur einem einzigen Gesichtspunkt: ihrer persönlichen Lage.

Das sieht nicht gut aus für Schröder.

Die Arbeitslosigkeit steigt, der Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland wird größer, die jungen Leute hauen ab. Es gibt im Osten keine Wechselstimmung, wenn man damit irgendeine Art von politischem Aufbruch meint. Aber die Enttäuschung vieler Ostdeutscher über Schröders großspurig angekündigte Chefsache Ost ist abgrundtief. Darin liegt Stoibers Chance: Er kann die Wahlen im Osten vielleicht nicht gewinnen, aber Schröder kann sie dort verlieren.

Es gibt im Osten eine weit verbreitete Sehnsucht nach Führung, nach starken Volkshelden. Könnte das dem Chef der Bayern-AG, Stoiber, nicht helfen?

Die Zeit der großen, alten Führungsfiguren – Biedenkopf in Sachsen, Vogel in Thüringen, Stolpe in Brandenburg – ist jetzt langsam auch in Ostdeutschland vorbei. Das Profil der Spitzenkandidaten wird nicht ausschlaggebend sein. Wir werden in Ostdeutschland einen Wahlkampf der harten, nüchternen Fakten erleben.

Und Stoibers autoritäres, konservatives Staatsverständnis – ist das nichts für die frustrierten Ostler? Lieber CSU als Schill-Partei?

Mit seinem aufgeklärten Staatsabsolutismus könnte Stoiber in der Tat viele Kleinbürger in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Recht und Ordnung ansprechen, auch Leute, die sich vom Einigungsprozess ausgestoßen fühlen. Eine kulturelle Differenz muss er dabei jedoch besonders beachten: Der Osten ist atheistisch. Mit seiner christlichen Abendlandrhetorik kommt Stoiber dort nicht weit. INTERVIEW: JENS KÖNIG