Einmal im Jahr sinnlos feiern

■ Neu im Kino: Debutfilm „Karnaval“ von Thomas Vincent

Mit dem Karneval ist nicht zu spaßen – gerade für die Menschen, die sonst wenig zu lachen haben! Etwa die Bewohner von Dünkirchen, einer ärmlichen, potthässlichen Hafenstadt in Nordfrankreich. Dort wird der traditionelle Karneval von Arbeitern, Arbeitslosen und ihren Familien mit Inbrunst gefeiert. Die Druckventile sind weit geöffnet, danach kann man für den Rest des Jahres vieles ertragen. Dies zeigt Thomas Vincent in seinem Debütfilm so hautnah, dass man die Alkoholschwaden fast von der Leinwand her zu riechen glaubt.

Wenn kein Karneval gewesen wäre, hätten sich Bea und Larbi wohl nie getroffen: Er ein algerischer Immigrant der zweiten Generation, sie eine Hausfrau, die nachts ihren sturzbetrunkenen Mann die Haustreppe hinauftragen muß. Dabei hilft ihr Larbi – ein Blick, und die Geschichte kommt in Gang. Sobald der Gatte wieder halbwegs nüchtern ist, entpuppt er sich als Choleriker. Man kann sich schon denken, wie es einen Tag lang im wilden Karnevalstrubel weitergeht. Aber der Plot ist bei diesem Film auch nicht wichtig, Vincent erzählt die Dreiecksgeschichte eher minimalistisch und setzt sie als Katalysator ein. Es geht ihm viel mehr darum, die Stimmung in diesen tollen Tagen von Dünkirchen so au-thentisch und intensiv wie möglich einzufangen.

Daher wirkt „Karnaval“ oft wie ein Dokumentarfilm. Für die Dreharbeiten mussten sich Regisseur und Filmteam in Faschingskostüme stecken, und so filmten sie mitten im wilden Festtaumel von 15.000 Narren. Die Schauspieler tauchen so in vielen Einstellungen wie zufällig im Gedränge auf, und die wilden und saftigen Gesänge (so ordinäre Untertitel liest man selten) drohen oft die Dialoge zu übertönen. Fasziniert, manchmal vielleicht auch ein wenig angeekelt, wird man vom Sog des Karnevalszuges mitgerissen.

Thomas Vincent hat diesen ungeschminkten Realismus sehr geschickt eingesetzt, doch manchmal wirken die Kostümierten im Kontrast zur grauen, nasskalten Tristesse der Stadt auch wie poetische Traumbilder. Die Schnittstellen zwischen Fiktion und Dokumentation, zwischen Schauspielern und real feiernden Narren sind oft kaum auszumachen, und dennoch verliert man die Protagonisten nie ganz aus den Augen. Eine Zeitlang hat man Angst um Larbi – nicht nur, weil der eifersüchtige Ehemann hinter ihm her ist, sondern auch, weil die Stimmung der volltrunkenen Narren auch leicht zu einer fremdenfeindlichen Hetzjagd führen könnte. Aber wenn Larbi sich dann nach einem Wettsaufen in der Kloschüssel die Seele aus dem Leib kotzt, sehen sie ihn als einen der Ihren an, der mitfeiern darf. Aber die Heldin des Films ist eindeutig Bea. Sylvie Testud, die man in Deutschland aus den Filmen „Jenseits der Stille“ und „Pünktchen und Anton“ kennt, spielt sie als eine vielschichtige, leidenschaftliche und zähe Frau: die einzige, die sich nicht im Trubel verliert, sondern ganz bewusst um die Chancen weiß, die sich ihr in diesen Tagen, und nur in diesen Tagen, bieten. Wilfried Hippen

„Karnaval“ läuft im Kino 46 (Termine siehe Kinoprogramm)