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: WLADIMIR KAMINER über Tschukschen in Berlin

Eine Minderheit namens Anton

Neulich lernte ich einen jungen Tschukschen in Berlin kennen, genau genommen einen Luoravetlanen, der eine vorbildliche Karriere gemacht hatte. Seine Eltern, erzählte er mir, seien beide Analphabeten, sie leben in einem kleinen Dorf auf der Tschukschen-Halbinsel in der Nähe des Polarkreises und können nicht einmal ihren Namen schreiben. Er ging dagegen seinerzeit in Anadir zu Schule, anschließend studierte er an der Universität in Nowosibirsk und wurde dann im Rahmen eines Studentenaustauschs als einer der Besten nach Berlin geschickt.

Hier ist Anton mit Sicherheit weit und breit der einzige Tschuksche beziehungsweise Luoravetlane, und repräsentiert also die mindeste Minderheit der neudeutschen Hauptstadt, dies wird aber von der Öffentlichkeit ignoriert. Er empört sich deswegen gerne über das allgemeine Medieninteresse an den anderen Minderheiten, die seiner Meinung nach kaum etwas Interessantes zu bieten haben. „Über das kurdische, russische oder bosnische Leben wird immer wieder berichtet, aber keiner schreibt einen Artikel über Tschukschen in Berlin, geschweige denn über die Urtschukschen – die Luoravetlanen: Sie werden in der Presse einfach totgeschwiegen“, schimpfte Anton.

Das muss sich ändern, sagte ich und versprach ihm, eine Geschichte über die Tschukschen in Berlin zu schreiben. Doch außer ihm habe ich bis jetzt noch keine Tschukschen getroffen, also musste ich Anton interviewen. Zwei Stunden lang haben wir miteinander geredet. Dabei stellte sich heraus, dass die Tschukschen in Berlin im großen und ganzen wie alle anderen Studenten hier leben: Mühsam verdienen sie sich ihr Bafög, wohnen in einer WG, und abends gehen sie in die eine oder andere Kneipe. Oft haben die jungen Tschukschen – Luoravetlanen – bei den Frauen Erfolg, aber noch öfter werden sie abgewiesen.

Doch es gibt etwas, was die Tschukschen von den anderen Berlinern unterscheidet: Einmal im Jahr fahren sie in ihr Heimatdorf zu ihrer Mutter in die Tundra. Dort verbringen sie normalerweise drei Wochen. Alle zwei hundert Luoravetlanen im Dorf sind untereinander verwandt. Wie in fast jedem Dorf glaubt eine Hälfte der Bewohner an Jesus Christus, die andere glaubt nur an die eigene Kraft. Außerdem gibt es einen, der glaubt, er wäre selbst Jesus Christus.

Die Luoravetlanen befinden sich schon seit einer Ewigkeit am Rande des Aussterbens und stehen deswegen unter der Kontrolle einer UNO-Kommission. Doch diese Kommision kann ihnen nicht ständig hinterher laufen und sie nachzählen, sie kommt einmal im Jahr und wundert sich dann, dass die Luoravetlanen schon wieder weniger geworden sind – obwohl die miesen Kommunisten auf Tschukotka längst ausgestorben sind.

Letztes Jahr ist die Luoravetlanen-Population erneut um sieben Seelen kleiner geworden. Die Polizei im Verwaltungszentrum Anadir hatte einen Hinweis bekommen, dass der berühmt-berüchtigte Serienmörder mit dem Spitznamen Schneemensch, der jeden Monat aus der Tiefe der Tundra auftauchte und jedesmal eine Frau mit einer Socke erdrosselte, ein Luoravetlane sei.

Der Stammesälteste wollte seinen verdächtigten Landsmann jedoch nicht der Staatsgewalt übergeben und drohte dem Polizeichef mit der UNO-Kommission. Von dieser Drohung ließ sich die Miliz aber nicht beeindrucken. Sie beschloss, das Haus des Verdächtigen zu stürmen. Seitdem gibt es auf der ganzen Welt nur noch 193 Luoravetlanen.

Nach diesem Drama beschlossen die Übriggebliebenen, sich von der Zivilisation erst einmal zurückzuziehen. Dazu tauschten sie mit der Lokalverwaltung ihr Gemeindeland gegen einen verlassene Raketenschacht der sowjetischen Armee – etwa zwanzig Kilometer vom Dorf entfernt, der schon immer ein Objekt ihrer Begierde gewesen war.

Die Atomraketen, die dort – vis a vis von Alaska – jahrzehntelang stationiert gewesen waren, damit die Sowjetunion Amerika auf dem kürzesten Weg erwischen konnte, wurden 1993 abgebaut. Eine gewisse Radioaktivität blieb jedoch erhalten. Deswegen ist es im Schacht das ganze Jahr über angenehm warm und trocken, man kann dort sogar im Winter Kartoffeln und Gurken anpflanzen. Der Raketenschacht ist ein riesiger unterirdischer Bunker mit vielen Wohnräumen – fast ein modernes Hochhaus, nur nach unten. Für die meisten Luoravetlanen war es ein lauschiges Plätzchen.

Nur Anton gefiel es dort nicht. Er ist in Berlin ein Großstadtmensch geworden und bekam unter der Erde Platzangst. Außerdem sei es sehr langweilig dort, er habe die ganze Zeit immer nur Gardner gelesen, erzählte Anton.

„Gardner? Earl Stanley Gardner? Den amerikanischen Krimiautor? Wie kam der denn in den Raketenschacht?“ fragte ich ihn ungläubig.

Im Schacht standen noch aus den alten Zeiten jede Menge Müllcontainer herum, erzählte mir Anton. Sie wurden nun von seinen Leuten langsam umfunktioniert.

Auf der Suche nach Lesbarem fand er dort eine ganze Auflage der Zeitung „Sowjetisches Sibirien“ aus dem Jahr 1983 mit einer Gardner-Geschichte als Fortsetzungsroman. Drei Wochen lang las er ununterbrochen Gardner. Immer wieder dieselbe Geschichte, aber jedesmal in einem neuen Exemplar.

„Zum Schluss ging sie mir ziemlich auf den Geist, dafür aber geht es jetzt meinen Leuten ganz gut. Die Uno-Kommission wird sich bestimmt freuen“, sagte Anton.

„Und was ist mit der Restradioaktivität?“ fragte ich ihn.

„So etwas spüren wir Luoravetlanen gar nicht“, meinte Anton und strahlte.