Die Tugend, zu gewinnen

Der brasilianische Fußball als Ort der Schönheit ist ein Mythos. Dennoch ist es genau dieses bisschen mehr – der Genius eines Ronaldo –, das entscheidet

aus Porto Alegre THOMAS FATHEUER

Bei diesem Endspiel ging es für Brasilien – mal wieder – um alles. Jubel wegen eines dritten Platzes? In Brasilien undenkbar. Das hat Gründe. Ein WM-Finale ist mehr, viel mehr als ein Fußballspiel. Zur Disposition steht nicht weniger als die nationale Identität. Ja, auf dem Spiel stand bei diesem Finale die Frage, ob Brasilien, das ewig krisengeschüttelte Land, auf immer dazu verurteilt ist, zu den Verlierern der Weltgeschichte zu gehören – oder ob es doch noch mal was mit dem „Land der Zukunft“ wird. Ronaldo & Co haben gewonnen – damit ist der Fluch immerwährenden Scheiterns gebannt.

Die Spiegelung von Fußball und Selbstwertgefühl hat Gerald Thomas, Brasiliens bekanntester Theaterregisseur, in der Folha de S. Paulo unter dem Titel „Elfmeter, Identität und organischer Patriotismus“ 1998 auf den Punkt gebracht. Dort beschrieb er, wie er den Sieg Brasiliens gegen Holland bei der WM 1998 in Manhattan erlebt: „Und, als Taffarel den Ball zur Seite abwehrte, knieten alle unsere Seelen auf dem Boden Manhattans und spürten einen kurzen Moment der Identifikation mit dem Höchsten, der Ehre, eine Identität zu besitzen, die mächtig ist, jung, unerfahren, unreif, voller Irrtümer, aber offen und großzügig. Keine Distanz kann dieses Gefühl behindern, keine Grenze kann es bestimmen, keine Regierung aufzwingen. Ja, die WM ist unser Krieg.“

Weltmeister zu werden ist mehr, als es in Deutschland gewesen wäre. Vor dem Spiel waren sich Deutsche und Brasilianer einig. Hier trafen nicht nur zwei Mannschaften aufeinander, dies war der Kampf von zwei (Spiel-)Kulturen. Die FAZ wollte gar einen Zusammenstoß zweier anthropologischer Konstanten diagnostizieren: Homo ludens gegen Homo faber oder: das Schöne gegen das Nützliche.

Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil es für die Brasilianer nicht nur um Sieg geht, sondern um den Beweis der Überlegenheit ihrer Spielweise. Fußballkunst lautet die Selbstqualifizierung. Da geht es um mehr als Taktik. Um die Frage, wie eigen- und widerständig der lateinamerikanische Fußball ist, tobt seit Jahrzehnten eine populäre Debatte, in der die Grundfragen lateinamerikanischer Identität verhandelt werden. Wie bestimmt Brasilien seinen Platz in der „Moderne“? Ermöglicht nur Anpassung einen Platz in einer immer mehr vereinheitlichten Welt? Oder gibt es eine lateinamerikanische Besonderheit, die sich dagegen behaupten kann?

In Yokohama hat Brasilien gezeigt, dass trotz Marktdiktat und Standortlogik ein unbezwingbarer Rest bleibt und dass es gerade auf diesen Rest, auf den verspielten Genius, auf Ronaldo und Ronaldinho, ankommt. Dass es Kunst und Fröhlichkei sind, die unserem Leben ein Sinn geben. Das hat das „unterentwickelte“ Brasilien der (Ersten) Welt in diesem Finale bewiesen.

Auch in dieser mythischen Zuschreibung – der brasilianische Fußball als Ort der Schönheit – liegt ein Betrug. „In gewisser Weise haben es die Brasilianer für uns alle verdorben. Sie hatten eine Art von platonisches Ideal enthüllt, das für immer unerreichbar bleiben sollte, sogar für sie selbst“, so beschreibt Nick Hornby seine erste Begegnung mit dem brasilianischen Fußball zu Pelés glorreichen Zeiten. Ja, und wer mit der Seele auf platonische Ideale schaut, aber in dunklen Höhlen lebt, der mag leicht das Opfer eigener Phantasie werden.

Der brasilianische Trainer Felipe Scolari hat seine Mannschaft eher auf Effizienz denn auf Spielfreude getrimmt. Längst hat auch der brasilianische Fußball Disziplin und Organisation gelernt. Penible Fußballbeobachter haben anhand untrüglicher Statistiken den effizientesten brasilianischen Spieler ausgemacht: Gilberto Silva, das Arbeitstier im Mittelfeld. Die Wirklichkeit ist komplexer, als es die Klischees von Homo faber und Homo ludens wissen.