taz-Sommerserie Maritimes Berlin (5): Kapitän zur Spree

Einmal im Monat treffen sich Berlins Seeleute auf dem ausgedienten Frachter Jeseniky. Dann erinnern sie sich an die gute alte Zeit auf See.

Nach vielen Jahren auf großer Fahrt legen die Seefahrer von einst heute nicht mehr ab Foto: Julia Baier

Wie immer ist es drei Minuten vor sechs Uhr am Abend, als am Heck des ausgedienten Schleppers „Jeseniky“ Jürgen Altmann mit einer Glocke klingelt. „Wir wollen pünktlich anfangen“, sagt der 67-Jährige mit den graublauen Augen und den markanten Gesichtszügen eines Robert De Niro. Warum gerade um 17.57 Uhr, ist so eine Eigenart, die keiner hier wirklich erklären will. Etwa zwanzig Männer und wenige Frauen sitzen verteilt an drei Tischen. Die Sonne steht tief am Märkischen Ufer. Von hier aus eröffnet sich einem ein malerischen Blick auf den Fernsehturm und die Jannowitzbrücke. Es ist der letzte Montag im Monat und damit Zeit für den „Klönsnack“. Zum 111. Mal treffen sich Berlins Seeleute heute zum Plaudern und Snacken.

„Wann legen wir ab?“, fragt ein Mann mit sonnengegerbtem Gesicht und lacht. Die „Jeseniky“ ist heute eine Gaststätte und sticht nicht mehr in See. Genau wie die meisten der Anwesenden. Viele der Kapitäne, Matrosen und Schiffsingenieure sind im Rentenalter und haben die aktive Zeit auf See bereits hinter sich – die schönste Zeit des Lebens, wie die meisten sagen. Hier treffen sie sich, um mit alten Kameraden zu trinken. Und um sich zu erinnern. „Wenn die anderen erzählen, fallen mir selbst oft wieder Dinge ein, die ich schon vergessen hatte“, sagt Altmann, der den Klönsnack vor über zehn Jahren ins Leben gerufen hat. Bis zu 50 Leute, vornehmlich Seemänner, kommen inzwischen zu den Treffen. Sie unterhalten sich über schlitzohrige Händler in Alexandria, Matrosen, die nach einer durchzechten Nacht ihr Schiff verpassten, und stundenlange Grenzkontrollen des ostdeutschen Zolls.

Jeden Tag ein anderer Hafen

Am Stammtisch reden sie alle wild durcheinander. Wir Seeleute lieben das Spontane und Ungezwungene, sagen sie. Auch deshalb sei der Klönsnack kein eingetragener Verein. Wer früher jeden Tag in einem anderen Hafen war, mag keine Verbindlichkeiten. „Das ist die eigentliche Seefahrt“, erklärt ein ehemaliger Kapitän mit weißem Haar, „es geht um die Freiheit.“

Berlin hat eigentlich alles: So viele Bäume mitten in der Stadt, dass andere Großstädter nur neidisch sein können. Und Wasser überall. Mehr Brücken als in Venedig gibt es hier. In Venedig allerdings riecht man das Meer. In Berlin gibt es viele Seen, doch keine See. Jedoch die Sehnsucht danach. In unserer Sommerserie schauen wir, wie die ganz maritim gestillt werden kann.

Unter taz.de/maritimes-berlin gibt es alle bisherigen Teile der Serie zum Nachlesen. (taz)

Aber zumindest einen Programmpunkt scheint es heute zu geben: Mit Offiziershemd, Krawatte und einer Seefahrermütze mit goldenem Emblem ist kurz zuvor Paul Rohr erschienen. Der alte Mann musste beim Laufen über das Deck des alten Kutters gestützt werden, es ist sein 92. Geburtstag. „Ich bin der 29-Jährige“, scherzt er in die Runde. Zu seinem Ehrentag spendiert er der Mannschaft eine Flasche Rum, ein brummiger Stimmenchor lässt ihn – einmal, zweimal, dreimal – hochleben. „Ich habe gehört, ihr sucht einen Kulturverantwortlichen“, sagt er danach, „ich möchte mich bewerben.“

Rohr war früher Kulturoffizier. Auf der „MS Völkerfreundschaft“, dem berühmten Urlauberschiff der DDR, organisierte er über zwölf Jahre lang das musikalische und kulturelle Programm. Bis 1976 „zwei Männer von der Partei“ kamen und ihm vorwarfen, er habe sich zu viel mit den bundesdeutschen Gästen beschäftigt. Innerhalb von acht Stunden musste Rohr das Schiff verlassen. Heute, 41 Jahre später, verliest er noch mal eines der Gedichte, die bei seinen Literaturvorträgen damals zum Einsatz kamen: „Ich möcht’n alten Dampfer kaufen, den würd ich herrichten und ihn nach meiner ersten Liebe taufen.“ Die meisten aus der Runde lauschen bedächtig, die anderen sind mit Scherzen und Prosten beschäftigt. Was hier verbindet, ist neben der Seefahrt auch ein Name, der in vielen Geschichten immer wieder auftaucht: DSR. Das Kürzel steht für Deutsche Seereederei Rostock und bezeichnet die ehemalige Staatsreederei der DDR. Mit über 200 Schiffen gegen Ende der 70er Jahre war sie ein international geachtetes Schiffskombinat, das fast alles transportierte. „Wenn es Scheiße abgepackt geben würde, würden wir es auch fahren“, war ein Spruch unter den Mitarbeitern der Reederei. Fast alle der Anwesenden arbeiteten früher für sie, auch mit einem gewissen Stolz. Die Arbeit in der Seefahrt war für viele DDR-Bürger die einzige Möglichkeit, die große, weite Welt zu sehen. Für ihren Stammtisch haben sich die früheren Reedereimitarbeiter blaue Poloshirts mit „Klönsnack DSR Berlin“-Schriftzug drucken lassen. Nach der Wende wurde die Reederei umgewandelt und der Frachtbetrieb an eine Investorengruppe aus Hamburg verkauft, Tausende Jobs gingen verloren.

Ein bisschen Nostalgie schwingt mit

Was hier verbindet, ist auch ein Name: Deutsche Seereederei Rostock

Doch das ist heute nicht das Thema. Die Stimmung beim Klönsnack ist ausgelassen, obwohl auch immer ein bisschen Nostalgie mitschwingt. „Die Seefahrt heute ist nicht mehr die, die wir kennen“, sagt ein ehemaliger Bootsmann, der früher Matrosen anleitete. Kleine Besatzungen, GPS-Steuerung und immer mehr Automatik hätten vieles verändert. Trotzdem war es gerade die neue Technik, die die alten Seefahrer am Stammtisch zusammenbrachte. Auf einer Internetseite können ehemalige Seeleute angeben, zu welchen Zeiten sie auf welchen Schiffen gefahren sind. Aus ein paar Treffen wurde der Stammtisch.

Der 92-jährige Paul Rohr (r.) ist der Älteste beim monatlichen „Klönsnack“ Foto: Julia Baier

Ab und zu über die guten alten Zeiten zu plaudern, noch dazu mit einer Handbreit Wasser unterm Kiel, scheint die Sehnsucht nach der Weite des offenen Meeres wenigstens ein bisschen zu stillen. Doch wenn es manche von ihnen überkommt, buchen sie doch noch mal eine Bootsreise. Aber nicht auf einem „Fleischdampfer“, wie einige hier ironisch über Kreuzfahrtschiffe mit sich an Deck sonnenden Touristen sprechen. Für Wolfgang König, ein Mann von Statur mit runden Brillengläsern, sind die Häfen und der Luxus an Bord zweitrangig. „Ich brauche den Geruch der Maschine, das Vibrieren des Dampfers und das schmutzige Deck“, sagt er. Im letzten Jahr ist der frühere Matrose noch einmal für einige Monate mit einem Containerschiff unterwegs gewesen. Mehrere tausend Euro kostet so eine Reise als Gast. Mit eigener kleiner Kammer an Bord reiste er wieder um die Welt. Dabei reichte es ihm schon, an Deck mit einer Tasse Kaffee zu sitzen und auf den Horizont zu blicken. An einem Tag durfte er sogar mit anpacken und sich ausnahmsweise frei an Deck bewegen. „Das war wie ein Sechser im Lotto“, schwärmt er.

Beim Klönsnack trinken und erzählen sie noch nach Einbruch der Dunkelheit. „Die machen hier so lange, bis der Letzte von uns geht“, meint einer. Die Barfrau schüttelt den Kopf und bringt noch eine Runde Bier. Es wird sicher noch etwas länger gehen, doch einen Gefallen wird den Seeleuten hier keiner tun: Die „Jeseniky“ wird auch heute nicht mehr ablegen.

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