taz-Serie Abgeordnetenhaus-Wahl (1): Arbeit? Welche Arbeit?

Alle reden vom „Jobwunder“ in Berlin – doch ein Gutteil der Bevölkerung bekommt vom neuen Aufschwung nichts mit oder arbeitet höchst prekär.

Viele BerlinerInnen kennen das: Schlange stehen im Jobcenter Foto: dpa

Es geht voran mit Ber­lin. Die Wirt­schaft wächst stär­ker als im Bun­des­durch­schnitt, im Mai sank die Zahl der Ar­beits­lo­sen erst­mals unter die als ma­gisch gel­ten­de 10-Pro­zent-Mar­ke – der nied­rigs­te Stand seit dem Mau­er­fall. Schon spricht die In­dus­trie- und Han­dels­kam­mer von der Haupt­stadt als „Job­mo­tor der Re­pu­blik“ – 150.000 neue Jobs hät­ten Ber­li­ner Un­ter­neh­mer bin­nen vier Jah­ren ge­schaf­fen. Und die re­gie­ren­de SPD, deren frü­he­res Spit­zen­per­so­nal mit dem „Arm, aber se­xy“-Image ko­ket­tier­te und die seit 2011 im Senat für Ar­beit zu­stän­dig ist, ju­belt. „Ber­lin boomt“, be­haup­tet sie in ihrem Wahl­pro­gramm und pro­phe­zeit sogar: „Ber­lin wird Stadt der Ar­beit“.

Selbst wenn man sol­che Phra­sen als Wahl­kampfly­rik abtut: So viel Eu­pho­rie lässt stut­zen. Man kann, so man will, auch ein ganz an­de­res Bild zeich­nen. Von Ber­lin als Stadt der Armen und Aus­ge­grenz­ten etwa, in der 547.000 Men­schen von Hartz IV leben – also fast jedeR Fünf­te. Im Sep­tem­ber 2011, als das Ab­ge­ord­ne­ten­haus zu­letzt ge­wählt wurde, waren es 30.000 mehr – Lang­zeit­ar­beits­lo­se pro­fi­tie­ren von den vie­len neuen Jobs also nur sehr be­grenzt.

Was für ein Jobwunder?

Auch der Ar­muts­be­richt des Pa­ri­tä­ti­schen Wohl­fahrts­ver­ban­des von 2016 sieht wei­ter­hin rund 20 Pro­zent der Ber­li­ne­rIn­nen in „re­la­ti­ver Armut“ – was heißt, das ihnen we­ni­ger als 60 Pro­zent des durch­schnitt­li­chen Ein­kom­mens zur Ver­fü­gung ste­hen. Ein nicht un­er­heb­li­cher Teil der Be­völ­ke­rung be­kommt vom Auf­schwung also nichts oder wenig mit. Die Grup­pen mit dem höchs­ten Ar­muts­ri­si­ko sind: Er­werbs­lo­se, Al­lein­er­zie­hen­de und Men­schen ohne deut­schen Pass.

Was ist das nun für ein „Job­wun­der“? Was die Wirt­schafts­be­rei­che an­geht, so wächst – wenig über­ra­schend – vor allem der öf­fent­li­che und pri­va­te Dienst­leis­tungs­be­reich: Gast­ge­wer­be, Tou­ris­mus, alles Di­gi­ta­le und alles, was mit der „Haupt­stadt­funk­ti­on“ zu­sam­men­hängt (An­sied­lung von Ver­bän­den, Un­ter­neh­men), sowie Bil­dung und Ge­sund­heit.

In der In­dus­trie hin­ge­gen ist für die Hauptstadt wei­ter­hin kein Blu­men­topf zu ge­win­nen. Hier geht es laut der ak­tu­el­len Stu­die „So­zia­le Spal­tun­gen in Ber­lin“ der Eber­hard-Schultz-Stif­tung nur noch darum, die Ab­wan­de­rung von Fir­men zu ver­hin­dern, etwa durch das Ab­sen­ken der Ta­rif­be­din­gun­gen.

Und so hal­ten die Au­to­ren der Stu­die fest, dass die Be­fürch­tun­gen des So­zio­lo­gen Hart­mut Häu­ßer­mann von 1992 weit­ge­hend wahr ge­wor­den sind: Mit dem star­ken Wachs­tum der Dienst­leis­tun­gen hat auch die Po­la­ri­sie­rung zu­ge­nom­men zwi­schen hoch­qua­li­fi­zier­ten, gut be­zahl­ten und un­qua­li­fi­zier­ten, schlecht be­zahl­ten Ar­beits­plät­zen.

Deutscher Gewerkschaftsbund

„Berlin ist die Hauptstadt der prekären Beschäftigung“

Dazu kommt eine wei­te­re Ent­wick­lung: Laut dem Deut­schen Ge­werk­schafts­bund ar­bei­ten in der „Haupt­stadt der pre­kä­ren Be­schäf­ti­gung“ in­zwi­schen 40 Pro­zent aller Ar­beit­neh­mer „aty­pisch“: 27 Pro­zent in Teil­zeit, 2 Pro­zent sind Lei­h­ar­bei­te­rIn­nen und 11 Pro­zent üben aus­schließ­lich Mi­ni­jobs aus. In ab­so­lu­ten Zah­len wuchs die­ser Be­reich zwi­schen 2006 und 2014 um 230.000 Per­so­nen.

An­ders aus­ge­drückt: Das Gros der neuen Ar­beits­plät­ze der letz­ten Jahre ist vor allem durch eine Ver­schie­bung ent­stan­den, wie die er­wähn­te Stu­die fest­hält: Immer we­ni­ger Men­schen ar­bei­ten Voll­zeit, immer mehr haben Teil­zeit­stel­len, Werks­ver­trä­ge, Mi­ni­jobs, sind Lei­h­ar­bei­ter, Scheinselbst­stän­di­ge – was in vie­len Fäl­len ge­rin­gen Ver­dienst und große Un­si­cher­heit mit sich bringt.

Mindestlohn federt ab

Im­mer­hin: Der im vo­ri­gen Jahr ein­ge­führ­te Min­dest­lohn hat diese Ent­wick­lung etwas ab­ge­fe­dert. Ge­ra­de in Ber­lin – eben­so wie in Ost­deutsch­land – konn­ten viele Ge­ring­ver­die­ne­rIn­nen, vor allem Frau­en, ihren Ver­dienst auf­bes­sern.

Was ist nun zu tun?

Um den fast un­ver­än­dert hohen So­ckel an Lang­zeit­ar­beits­lo­sen ab­zu­bau­en, reicht es of­fen­kun­dig nicht, auf eine wei­ter wach­sen­de Kon­junk­tur zu hof­fen. Nötig wäre eine ak­ti­ve Ar­beits­markt­po­li­tik mit einem öf­fent­li­chen Be­schäf­ti­gungs­sek­tor zu Ta­rif­löh­nen, sagt etwa Ul­rich Bo­chum, So­zio­lo­ge im IG-Me­tall-Haus und Mit­au­tor der Spal­tun­gen-Stu­die. Der unter Rot-Rot ent­wi­ckel­te öffentliche Beschäftigungssektor sei zwar vom Um­fang her viel zu klein ge­we­sen, „aber er wäre im­mer­hin eine Mög­lich­keit, Lang­zeit­ar­beits­lo­sen eine Per­spek­ti­ve zu schaf­fen“. Wenn ihn die jetzige Ko­ali­ti­on von SPD und CDU nicht kom­plett ab­ge­schafft hätte.

Po­si­tiv sieht Bo­chum, dass der Senat erst­mals nach Jah­ren der ri­go­ro­sen Spar­po­li­tik die In­ves­ti­tio­nen wie­der hoch­fährt: Schul­sa­nie­rung, öf­fent­li­cher Woh­nungs­bau, Ver­kehr – in die­sen Be­rei­chen gebe es einen „rie­si­gen In­ves­ti­ti­ons­stau“, durch des­sen Abbau viele Ar­beits­plät­ze ge­schaf­fen wür­den. „Das muss aus­ge­baut wer­den“, for­dert Bochum.

Im be­gin­nen­den Wahl­kampf spie­len die The­men Er­werbs­lo­sig­keit und Armut al­ler­dings keine große Rolle. Zwar haben alle Par­tei­en den so­zia­len Woh­nungs­bau wie­derent­deckt. „Aber die so­zia­le Spal­tung der Stadt wird nicht the­ma­ti­siert“, stellt So­zio­lo­ge Bo­chum fest. Das mag zum Teil we­nigs­tens daran lie­gen, dass viele Lang­zeit­ar­beits­lo­se oder von Armut Be­trof­fe­ne schon lange nicht mehr wäh­len gehen – und als Kli­en­tel von den meis­ten Par­tei­en längst ab­ge­schrie­ben sind. Die Ge­fahr sei al­ler­dings groß, dass ein nicht ge­rin­ger Teil der „Aus­ge­schlos­se­nen“ nun mit der AfD liebäugelt, be­fürch­tet Bo­chum.

Auch der Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Peter Grot­ti­an er­in­nert daran, dass die Zei­ten, in denen die Links­par­tei die „Küm­me­rer­par­tei“ der Hartz-IV­ler war, längst vor­bei sind. „Die Aus­sicht, dass die Linke etwas än­dert an der Lage der Hartz-IV-Emp­fän­ger, ist ge­ring, und so lau­fen sie in Scha­ren zur AfD über.“ Diese Ten­denz der letz­ten Land­tags­wah­len wird sich, be­fürch­tet Grot­ti­an, am 18. Sep­tem­ber auch in Ber­lin zei­gen.

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