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Archiv-Artikel

Tunesiens Fassade der Stabilität bröckelt

Immer öfter liefert sich Polizei Schießereien mit „kriminellen Banden“, die wohl in Wahrheit bewaffnete Islamisten sind

MADRID taz ■ Tunesiens Präsident Zine El Abidine Ben Ali ist in Erklärungsnotstand geraten, nachdem im stabilsten Land Nordafrikas gleich drei Feuergefechte zwischen bewaffneten Gruppen und der Polizei stattgefunden haben. Während die offiziellen Stellungnahmen von „kriminellen Banden“ sprechen, deutet immer mehr auf radikale Islamisten hin. Dies einzugestehen würde den Mythos vom stabilen Tunesien zerstören.

Der erste Zwischenfall ereignete sich am 23. Dezember in Hammam-Lif, 25 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis. Eine schwerbewaffnete Gruppe wurde von der Polizei entdeckt. Zwei „gefährliche Kriminelle“ wurden dabei getötet, zwei Polizisten wurden verletzt. Ein riesiges Aufgebot aus Polizei, Gendarmerie und Armee begann, die Gegend abzusuchen. Am Nachmittag des 3. Januar kam es zu einem erneuten Zwischenfall, in Solimane, 45 Kilometer südlich von Tunis. Der heftige Schusswechsel dauerte bis in die Nacht. Nach Angaben des tunesischen Innenministeriums verloren dabei 12 Bewaffnete das Leben. 15 weitere sollen festgenommen worden sein. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete unter Berufung auf „Sicherheitskreise“ gar von 25 Toten. Unter ihnen sollen neben Tunesiern auch Algerier und Mauretanier gewesen. Ein dritter Schusswechsel hatte sich bereits an Silvester unweit des Gerichtsgebäudes in Tunis ereignet. Einzelheiten darüber wurden nicht bekannt.

Während die staatliche, gelenkte tunesische Presse am Tag nach der Schießerei von Solimane bloß die offiziellen Kommuniqués nachbetete und die Bewaffneten als „Drogen- und Waffenschiebern“ bezeichnete, sprach die in London erscheinende panarabische Tageszeitung al-Hayat von einer radikal-islamistischen Gruppe, die mit ihren Gesinnungsgenossen von den Salafistischen Gruppen für Predigt und Kampf (GSPC) im benachbarten Algerien in Verbindung stehe. Demnach sollen mehrere dutzend junger Tunesier nach dem Beginn des Irakkriegs zum algerischen Untergrund gegangen sein, um sich dort militärisch ausbilden zu lassen. Die Verhaftung zweier Tunesier in Algerien kurz vor Jahreswechsel bestätige dies.

Auch oppositionelle Tunesier sehen radikale Islamisten als Urheber der Auseinandersetzungen. Sie glauben gar, dass das Innenministerium vorgewarnt war. Denn bereits eine Woche vor der ersten Schießerei führte die Polizei überall im Lande Razzien gegen Jugendliche durch.

Für die tunesische Opposition kommt der Ausbruch der religiösen Gewalt nicht überraschend. „In Tunesien gibt es keine legale Opposition“, erklärt die Journalistin und Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine. Der seit 19 Jahren mit eiserner Faust regierende Ben Ali unterbindet jedwede auch noch so friedliche Unmutsäußerung. „Das begünstigt die Gewalt“, meint Bensedrine, die im Hamburger Exil lebt. Nach einem Bericht der französischen Tageszeitung Libération ging Ende Dezember das Auto eines Bruders von Ben Ali im Mittelmeerort Sousse in Flammen auf. „Dieses Mal ist es dein Auto, das nächstes Mal bist es du“ war auf einem Zettel zu lesen gewesen. REINER WANDLER