Laxness revisited

„Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“, eine Art Schlüsselroman des isländischen Erfolgsautors Hallgrímur Helgason

VON KATHARINA GRANZIN

Der vielseitig begabte Isländer Hallgrímur Helgason ist hierzulande vor allem durch seinen charmanten kleinen Roman „101 Reykjavík“ (und dessen nicht minder charmante Verfilmung) bekannt geworden, der davon handelt, wie ein vielversprechender junger Mann sein Leben ambitionslos vertrödelt. Sein Autor aber strebt in seinem neuesten auf Deutsch vorliegenden Roman nach dem genauen Gegenteil, nämlich direkt in den Olymp der nordischen Literatur. „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“ ist ein schwerleibiges Opus magnum, dessen Hauptfigur unverkennbar Züge des höchsten der isländischen Literaturgötter trägt: des 1998 verstorbenen Halldór Laxness, der als einziger Isländer je den Nobelpreis erhielt. Eine Art Schlüsselroman also, der dabei so unerschrocken wie ernsthaft mit seiner heiklen Materie umgeht. Natürlich: An einem Schlüsselroman hat man umso mehr Vergnügen, je mehr Anspielungen man versteht, je mehr Abweichungen von der bewusst verfremdeten Realität man aufzudecken imstande ist. In dieser Hinsicht haben es deutsche Leser mit Helgasons Roman schwer, denn uns entgehen unzählige Insiderjokes, die nur Leuten verständlich sind, die in Island ihr Abitur gemacht oder zumindest Laxness’ Roman „Sein eigener Herr“ gelesen haben (wie der Übersetzer im Nachwort empfiehlt). Wer Letzteres noch nicht getan hat, kann durch die Helgason-Lektüre Lust bekommen, es nachzuholen.

Denn „Vom zweifelhaften Vergnügen …“ ist vor allem ein sehr intelligenter Roman über Literatur, der auf vielschichtige Weise über das Verhältnis zwischen Autor, Werk und Lesern reflektiert und sich dabei einer ungewöhnlichen Konstruktion bedient. Ein alter Schriftsteller erwacht auf einer Wiese und kann sich partout nicht erklären, wie er dorthin gekommen ist –korrekt gekleidet in einen altmodischen Dreiteiler und Schuhe, doch ohne Socken. Ein kleiner Junge, der ihn gefunden hat, überredet seinen Vater, den Alten mit auf ihren abgelegenen Hof zu nehmen. Dort scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Es gibt weder Fernsehen noch moderne Küchengeräte, dafür aber einen Kalender aus dem Jahr 1952. Der Schriftsteller braucht etliche Tage, bis er begreift, wohin es ihn verschlagen hat: in die eigene Unsterblichkeit. Sein irdisches Dasein ist beendet, doch sein literarisches darf er in einem seiner Romane fortsetzen. Helgason erzählt drei Geschichten auf einmal: Eine, die davon handelt, wie der Großschriftsteller E. J. Grímsson sich in der Unsterblichkeit einrichtet. Zweitens die Geschichte der Irrungen und Wirrungen von dessen abgelebtem Leben. Und vor allem rollt er Grímssons berühmtesten Roman noch einmal auf, eine Familiensaga über den Untergang des stolzesten Schafbauern der Insel. Der Bauer Hrolfur, seine Schwiegermutter, seine schöne Tochter und sein sensibler kleiner Sohn sind nun die ständigen Begleiter des Untoten. Die gewalttätigste Szene seines Romans, die Vergewaltigung des Bauernmädchens durch den Vater, muss der Autor als tatenloser Zeuge nun selbst mit ansehen. In seinem Kopf verschränken sich die Bilder mit der Erinnerung an sich selbst, den noch jungen Autor, der die Tochter zugunsten der Karriere vernachlässigt und damit zu ihrem frühen Tod beigetragen hat.

Mit Nachdruck stellt Helgasons Roman die Frage nach der moralischen Verantwortung der Kunst und des Künstlers und entwirft ein wenig schmeichelhaftes Porträt des Menschen E. J. Grímsson, eines ehemaligen Stalin-Apologeten, dessen persönliche Schuld weit über den familiären Bereich hinausgeht. Noch in der Unsterblichkeit wird der Schriftsteller vom Gedanken an den Verrat verfolgt, den er bei einem Aufenthalt in der Sowjetunion der Dreißigerjahre an einem Landsmann und dessen Familie begangen hat. In seiner Gewissensqual wird ihm die Erinnerung an den Genossen, der den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer fiel, zum Bild des gekreuzigten Christus.

Endgültig moralisch deklassiert sieht Grímsson sich, als in seiner unsterblichen Romanwelt auch sein ehemals einflussreichster, nun gleichfalls toter Kritiker auftaucht. Er ist der Bruder dessen, den der Schriftsteller in der Sowjetunion im Stich gelassen hatte. Doch dieser Kritiker mag zwar selbst ein schlechter Lyriker sein; menschlich erweist er sich als der Größere der beiden, da er die Rachegefühle, die er dem Verräter gegenüber hegen mag, nicht auf dem Feld der Literatur ausgetragen und maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Grímsson – dessen ästhetische Überzeugungen er nicht einmal teilt – zum bedeutendsten Schriftsteller Islands wurde. So ist die Antwort auf die Moralfrage einfach und schwer zugleich. Auch ein noch so genialer Künstler kann ein Feigling sein, ein Reaktionär oder gar ein Charakterschwein. Die Kunst aber ist die Kunst ist die Kunst.

Hallgrímur Helgason: „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“. Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, 615 S., 24,50 Euro