Es wuchert im eisernen Gehäuse

Sie sind rational, nämlich kästchenförmig organisiert, und doch steht das ins Bild wuchernde Wort am Anfang. Wie sich Comics zur Stadt verhalten, diskutierten am Wochenende die Teilnehmer einer internationalen Tagung

Die um 1900 neu entstandene Kunst ist näher an Mallarmé als an Wilhelm Busch

VON EKKEHARD KNÖRER

Seit Anfang der Neunzigerjahre arbeitet Marc-Antoine Mathieu an seiner Comic-Serie um Herrn Acquefacques, einen Beamten im Humorministerium einer namenlosen Stadt. Liest man den Namen des Protagonisten rückwärts, wird umstandslos „Kafka“ daraus. Kein Wunder, dass es aus der Stadt, in der er lebt, kein Entkommen gibt. Vor der Stadtmauer lauert das blanke Nichts, und zwar buchstäblich, in Form weißen Panelgrunds. Die Stadt selbst ist ein bürokratischer Raum, in dem planerische Rationalität längst in einen irrationalen Ordnungsfanatismus umgeschlagen ist.

Auf der von Arno Meteling und Jörn Ahrens am Wochenende in den Sophiensälen organisierten Tagung zum Thema „Comic und Stadt“ näherte sich André Suhr Mathieus Werk daher mit der Bürokratiesoziologie von Max Weber und Georg Simmel: Der geometrisch geplante Stadtraum wird so lesbar als eisernes Gehäuse moderner Rationalität. Die Deutung Suhrs ging aber noch einen Schritt weiter, indem sie Mathieus Stadtentwurf auch als Allegorie der Verfahren des Comics schlechthin zu lesen versuchte: Schließlich wird jedes Bild zum Panel erst durch einen in aller Regel rechteckigen Rahmen. Als Folge gerahmter Bilder fügen die Panels sich in eine rational organisierte Seitenarchitektur. Das ist ein verblüffender Perspektivwechsel, denn unversehens erhält der Comic so gerade als spezifische Form der Raumordnung von Bildern ein historisches Datum. Er wäre ganz genuin ein Kind der ästhetischen Moderne, ein ins Populäre verschlagener Bruder nicht nur von Weber und Kafka, sondern auch von Le Corbusier. Tatsächlich erwies sich genau diese Frage nach der historischen Verortung des Comics als der rote Faden einer Tagung, die eigentlich angetreten war, Stadt- und Raumdarstellungen in den Blick zu nehmen.

Jens Balzer, Redakteur der Berliner Zeitung, spitzte die Frage in seinem Eröffnungsvortrag bereits dahingehend zu. Der Comic, so seine These, entsteht genau in dem Moment, in dem das Verhältnis von Schrift und Bild im abgebildeten Stadtraum nicht mehr klar definiert, eine eindeutige Unterscheidbarkeit nicht mehr gegeben ist. Exemplarisch führte Balzer das an einem Panel des erstmals 1895 als Sonntagsbeilage der Zeitung New York World erschienenen Comic-Strips „Hogan’s Alley“ vor. Die Schrift dringt hier in den Bildraum ein, ohne dass man ihr einen Sprecher zuordnen könnte, sie fordert als Slogan an Wänden, ja sogar als in die Wolken gemalte Kritzelei den zerstreuten Blick des Flaneurs.

Die von Walter Benjamin am Beispiel von Paris entwickelten Thesen zur modernen Stadterfahrung fänden damit ihre Entsprechung in der Abstrahierung des Zeichenraums. Schärfer lässt sich die These des fundamental modernistischen Charakters des Comics nicht pointieren. Die um 1900 neu entstandene Kunst wäre so näher an Stephane Mallarmé als an Wilhelm Busch, dem eigenen Gesetz nach auf dem Weg eher zu Cy Twombly als zu Superman und Donald Duck. Mit dieser normativen These zur Geburt des Comic aus dem Geist der Moderne verschafft man seiner darauf folgenden Geschichte freilich ein beträchtliches Legitimationsproblem. Denn was bleibt dem Comic, wenn die kanonischen Klassiker das Formgesetz im Grund bereits erfüllen? Die Wendung zur säuberlichen Separierung von Bild und Text in der Sprechblase, zur Konzentration auf die an lineare Sequenzen gebundene Bilderzählung ist dann eigentlich nur als Verfallsgeschichte zu lesen.

Wie kaum anders zu erwarten, ließen sich die Hochkaräter der akademischen Comicforschung aus den USA von derlei europäischen Kunsttheorie-Ansinnen nicht beirren. Der „Aca-Fan“ (d. h. Akademiker und Fan) Henry Jenkins, Professor am MIT, begeisterte sich für den Retrofuturismus des Comic-Künstlers Dean Motter. Der Begriff „Retrofuturismus“ beschreibt einen zwar reflexiven, aber doch affirmativ nostalgischen Zug der Rückkehr zu den Zukünften von gestern, wie sie etwa in der klassischen Science-Fiction oder auch der New Yorker Weltausstellung von 1939 entworfen wurden. Ganz unverhohlen outete sich Jenkins denn auch als Teilnehmer einer bei Ebay in Bietkonkurrenz zu Weltausstellungs-Material versammelten Fankultur.

Noch sonniger fiel der utopische Gegenentwurf des Keynote-Speaker Scott Bukatman aus Stanford aus. Gegen alle neueren Tendenzen, den Superhelden diverse Modernisierungslasten aufzubürden, feierte er gerade ihre euphorisierende Fähigkeit zur schwindelerregend handgreiflichen Stadtraumveränderung. Insbesondere die Anarchofamilie der „Incredibles“ im gleichnamigen Pixar-Film von 2004 hat es ihm angetan. Er begreift sie nicht als Nachfolger von Helden wie Batman, sondern als Geistes- und Bewegungsverwandte der großen Tänzer des Hollywood-Musicals wie Gene Kelly oder Fred Astaire.

Freilich sahen aber auch die amerikanischen Aca-Fans Anlass zur Melancholie. Denn auch im Heimatland der Superhelden sind diese längst ins Hintertreffen geraten gegenüber der japanischen Manga-Kultur, die sich aktuellen Zahlen zufolge im Verhältnis 4:1 deutlich besser verkauft. Jacqueline Berndt aus Yokohama präsentierte jüngere Beispiele des Manga – und machte deutlich, dass sich in den oft in fliegender Hast in öffentlichen Verkehrsmitteln konsumierten Büchern alle stabilen Stadträumlichkeiten längst in bloße Zeichen aufgelöst haben. Damit kontrastiert wiederum eine derzeit grassierende Nostalgie für die Zeit des nationalistischen Kaisers Hirohito.

In den aktuellen Manga-Bestsellern gibt es, wenn diese Diagnose stimmt, also nur die Alternative zwischen purer Affirmation der Gegenwart und kritikloser Verklärung der Vergangenheit ohne die Möglichkeit eines retrofuturistischen Vermittlungsversuchs. Von den skeptischen wie den utopischen Impulsen der Moderne bliebe damit wenig bis gar nichts mehr übrig. Wenn das die Zukunft des Comic ist, dann hat er sie wohl tatsächlich bereits hinter sich.