Rechtsstaat außer Kraft gesetzt
: KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es gibt in der Geschichte sogenannter Terroristenprozesse einen Fall, in dem bekanntermaßen der Verfassungsschutz ein Urteil verhindert hat: beim Mord an dem Studenten Ulrich Schmücker. Der Prozess musste nach vier Anläufen eingestellt werden, weil der Verfassungsschutz Akten manipuliert hatte, Zeugen falsch aussagen ließ und einen Zeugen, einen V-Mann, zurückgehalten hat.

Wie es scheint, hat der Verfassungsschutz aus dem Fall Schmücker gelernt. Die Aussagen ihrer Informantin Verena Becker, die offenbar Anfang der 80er-Jahre als einzige ehemalige RAF-Angehörige im Knast ausgepackt hat, gab der Verfassungsschutz gar nicht erst an die Bundesanwaltschaft weiter und verhinderte so, dass sie überhaupt in ein Gerichtsverfahren eingeführt werden konnten. Stimmen Beckers Angaben, wurde Knut Folkerts für etwas verurteilt, was er nie getan hat, und Stefan Wisniewski, in anderer Sache bereits zu zweimal lebenslänglich verurteilt, blieb ein drittes Mal lebenslänglich erspart.

Eine staatliche Behörde, der Verfassungsschutz, hat dem Gericht wichtige Informationen vorenthalten, um eine Quelle zu schützen? Ja, so funktionieren Geheimdienste eben. Es bestätigt sich wieder einmal, dass ein demokratischer Rechtsstaat, der öffentlich und transparent urteilt, mit Geheimdiensten im Kern nicht kompatibel ist. Alle diejenigen, die zurzeit im Zuge der Bekämpfung des neuen Terrorismus den Geheimdiensten immer mehr Kompetenzen einräumen wollen, tun dies auf Kosten des Rechtsstaats. Die Verfolgung der RAF-Terroristen hat das schon damals gezeigt. Die jetzt aufgetauchten Akten aus dem Giftschrank des Verfassungsschutzes bestätigen das nur noch einmal.

Wer Geheimdienste haben will, muss auch mit den Folgen ihres Tuns leben. Die teilweise Außerkraftsetzung des Rechtsstaats wird man nun nicht mehr heilen können. Knut Folkerts hat seine Zeit abgesessen und auch Stefan Wisniewski war 21 Jahre im Gefängnis. Soll er nun noch einmal wegen Mordes angeklagt werden? Obwohl seine Haftzeit vielleicht bloß zwei Jahre länger gewesen wäre, hätte das Gericht in Kenntnis der Becker-Aussage entschieden? Das wäre absurd.