vonWolfgang Koch 07.02.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Bis zum definitiven Trennungsbeschluss Wiens von Niederösterreich bleibt die Stadterweiterung ein heisses politisches Eisen. Es melden sich in der Debatte so viele Politiker, Journalisten und Bürgerversammlungen zu Wort, dass nicht mehr exakt auszumachen ist, von wem welche Anstösse kommen.

Der erste Plan zur Stadterweiterung im November 1919 stammt von Josef Sigmund und gelangt nie an die Öffentlichkeit. Als nächstes schägt Landeshauptmann Leopold Steiner bei einer Versammlung in Döbling vor, Wien sollte einen Korridor durch das Marchfeld bis an die tschechoslowakische Grenze erhalten, um einen Stichkanal zum geplanten Donau-Oder-Kanal bauen zu können.

Stadtbauexperte Maximilian Ermers geht noch weiter. Er sucht im Auftrag der Stadt »natürliche« Berühungslinien mit der Tschechoslowakei und Ungarn. Ermers befürwortet den Anschluss von Anger-Stockerau-Hadersdorf und verleibt das Marchfeld als »Nahrungsspielraum der Grosstadt« seinem Plan ein. Das Tullernfeld soll dereinst die grosse Zuckerplantage der Stadt werden.

Der Ermers-Plan vom März 1920 dürfte auch heutigen Ökologen gefallen, da er die Bewässerung der Felder mit »Windmotoren« beabsichtigt. Eine Schnellbahn soll »Gartenstädte, Industriedörfer und Satellite Towns« im gesamten Wiener Land miteinander verbinden. Restniederösterreich würde nach diesem Entwurf zur ärmsten Region Österreichs absinken.

Sigmund, Steiner, Ermers – ein vierter Plan erlangt durch den Wiener Neustädter Bürgermeister Anton Ofenböck oder durch Karl Renner, genau ist das nicht mehr auszumachen, Brisanz. Er geht unter dem Stichwort »Wiener Land« in die Annalen ein. Das projektierte Gebiet soll sich vom Stephansdom bis nach St. Pölten und bis zum Semmeringgebirge erstrecken. Eine Variante dieses Planes fordert überhaupt eine Zweiteilung Niederösterreich in ein industrielles Land und ein agrarisches Gebiet, wobei die Industriezone die Südbahnstrecke von Liesing bis Gloggnitz mit Wien vereinigen soll. So würden Arbeiterstadt und Bauernland getrennte Wege gehen.

Diskutiert man auch Alternativen zur Trennung? Ja, auch das. Staatssekretär Michael Mayr, Hans Kelsen und GR Richard Schmitz favorisieren die Kurialisierung des NÖ-Landtages nach dem Vorbild der Schweizer Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Land: zwei Kurien mit einem Oberlandtag.

Auf den sogenannte Länderkonferenzen der Parteien prallen die Interessen der Förderalisten und der Zentralisten, der Unionisten und der Separatisten hart aufeinander. Der Bruch der sozialdemokratisch-christlichsozialen Koalition im Juni 1920 vergrössert die Spannungen noch.

Schliesslich, Ende gut, alles gut, geben die wirtschaftliche Schwäche und die politische Isolation der Bundesregierung den Ausschlag. Die geplante zentralistische Verfassung wird in eine bundestaatliche umgeändert. Der Historiker Walter Lukaseder behauptet einen »unmittelbaren Zusammenhang« der Verfassungsreform mit der Teilung der Länder. »Die geplante Einrichtung Österreichs als Bundesstaat», so Lukaseder, »und der Fortbestand eines Landes Gross-Niederösterreich samt seiner Hauptstadt Wien schlossen einander aus«. Ein Mega-NÖ könnte in der Länderkammer alle anderen Länder majorisiert, also überstimmen.

1. Oktober 1920, es ist soweit! Die konstituierende Nationalversammlung beschliesst mit Stichtag 1.1.1922 Wiens verfassunsgrechtliche und finanzpolitische Trennung von Niederösterreich. Den politischen Ausschlag gibt die Nachgiebigkeit der Wiener Christlichsozialen gegenüber ihrer Mutterpartei. Ignaz Seipel, die herausragende Gestalt dieser Konservativen, ein Mann, der deutlich nach Höherem strebt, hat im entscheidenden Moment die Seiten gewechselt.

© Wolfgang Koch 2008
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