vonWolfgang Koch 31.01.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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1919 kämpften die Griechen gegen die Türken – für die »grosse Idee« der Wiedererrichtung eines hellenistischen Imperiums. Polen kämpfen gegen Russen für die Errichtung von Grosspolen; Deutsche agitieren unter Deutschen für die soziale Revolution; Iren ringen mit Briten um die Unabhängigkeit; in Russland führen Rote und Weisse einen Bürgerkrieg um die Kontrolle der Staatsmacht; und eine ganze Anzahl früherer, dem Zar untertaner Völker in Transkaukasien, im Baltikum und in Zentralasien streiten für ihre Freiheit.

Die halbe Welt also liegt im Streit mit sich selbst, die vom Weltkriegsmorden Geheilten hauen sich allenortens wieder die Schädel ein. Nur ein kleines Völkchen inmitten des Herzens von Europa will auf seine Selbstständigkeit verzichten! Um jeden Preis!

Verzichten? Tatsächlich! Die deutschösterreichische Delegation zur internationalen Friedenskonferenz in Paris ringt zehn Monate lang um den Anschluss der Alpenrepublik an den Grossstaat Deutschland. Die gesamte Wiener Elite sieht sich als geschichtlicher Vorbote einer neuen Machtpolitik.

Die Erste Republik beginnt also nicht mit dem Tag zu zählen, an dem sie die österreichischen Schulbücher bis heute verorten. Das Leben der Erste Republik beginnt in dem historischen Moment, in dem das deutschösterreichische Illusionsprojekt in sich zusammenbricht und erlischt: Am 10. September 1919 unterzeichnet Staatskanzler Renner, gram und wortlos, im Schloss Saint-Germain-en-Laye in Paris einen Vertrag mit 27 alliierten und assoziierten Mächten, der 381 Artikel in 14 Teilen umfasst.

Zähneknirschend ändert die Nationalversammlung daraufhin den Staatsnamen. Zähneknischend streicht sie den Annex Deutsch- zum Staatsnamen -Österreich. Die Erste Republik wird, um ein berühmtes Wort zu zitieren, zum »Kleinstaat wider Willen«.

In den folgenden Jahren geht der Stadt-Land-Konflikt munter weiter. Bauernschaft und Kleinbürgertum befinden sich objektiv auf dem absteigendem Ast. Stetig und trotz Mechanisierung der Landwirtschaft verschlechtert sich deren materielle Lage. Von daher spiegeln die regressiven Einstellungen der Landbevölkerung nur ihre Ängste. Die Menschen suchen ein Ideal und findet es logischerweise in der Religion und in einer Vergangenheit, in der es einem persönlich besser gegangen ist.

Auf der anderen Seite des Stroms: der seltsame Bund von Prolet und Kapital. Arbeiter und Unternehmerschaft vereint der Fortschrittglaube; beide Klassen sind überzeugt von der Effizienz einer durchgreifenden Industriealisierung.

In dieser Situation blasen konservative Politiker in den Ländern die angedachte Trennung von Wien und Niederösterreich zu einer unschlagbaren Föderalismusidee auf. Den Herrschaften vom flachen Land erscheint es plötzlich unzumutbar, dass linke Arbeiterpolitiker im Zentrum einen Einfluss auf ihre Regionalgeschäfte nehmen könnten.

Bei partei- und wahltaktische Überlegungen der Sozialdemokraten fällt dieser Vorschlag auf fruchtbaren Boden. Zirka sechzig Prozent der Parteimitglieder sind Mitglieder der Wiener Organisation. Darum will diese Partei unbedingt einen Ort schaffen, dessen Geschehen von ihr dominiert wird.

Man denkt: »Die Arbeiterschaft muss einen Punkt haben, wo sie ihre politische Macht ausübt!« Also Wien. Man denkt: »Besser in einem Land sicher die Macht als in zwei Gebieten unsicher!« Wien.

Die Sozialdemokraten irren sich wieder einmal. Wahlanalysen der Folgejahre zeigen, dass bei einer Addition der Landtagswahlergebnisse von Wien und NÖ die Mehrheit im Landtag nie verloren gehen würde. Das Rote Wien ginge bei Erhaltung der Landeseinheit automatisch in ein Rotes Niederösterreich über, nicht umgekehrt.

Wie immer gibt es in der Sozialdemokratie auch warnende Stimmen. Bürgermeister Reumann zum Beispiel. Er wünscht eine Art staatsunmittelbare Stellung der Stadt Wien – ohne Trennung von NÖ. Der Wiener Landesrat Rudolf Müller warnt vor einem »gefährlichen Partikularismus« und weist darauf hin, dass mehr als achtzig Prozent aller in NÖ geleisteten Steuern in Wien aufgebracht werden.

Das dritte Lager opponiert vehement. »Die Viertel unter dem Wienerwald«, sagt der Nationaldemokrat Otto Lutz, »haben mit dem Waldviertel weniger Gemeinsamkeiten als mit Wien«. Es bestehe die Gefahr, dass morgen weitere Einheiten die Souveränität der Länder brechen. Was, bitte, meint er, sollte die Wiener Neustädter morgen davon abhalten, ein »selbstständiges Land Wiener Neustadt« zu verlangen?

Otto Lutz kritisiert eine »selbstmörderische Kirchturmspolitik« des flachen Landes. Wien dürfe nicht »durch einen Stacheldraht eingeschnürt werden«. Die zum Schlag gegen die Sozialdemokratie ausgeholte Waffe, sei »ein zweischneidiges Schwert, das vielleicht den Angreifer mehr verletzt als denjenigen, den es treffen soll«.

Das ist sehr viel Kriegsrhetorik, so knapp nach dem Weltkrieg. Aber das ist auch eine, im Licht der zukünftigen Ereignisse, recht verblüffende Debatte.

Von April 1920 an beschäftigt sich der Wiener Gemeinderat mit der Zweiteilung. Und die Idee schlägt immer luftigere Kapriolen. Die Tschechen unterstützen die Verbindung Wiens mit der Tschechoslowakei. Bei den Sozis ist immer öfter von »Bewegungsfreiheit« die Rede; Reumann schwenkt um und betont nun ebenfalls, »dass die Stadt Wien nicht eingeschnürt werden darf«. Der Superlinksaussen des Austromarxismus, Max Adler, fordert gleich auch das Recht der Obersteirer und der Wiener Neustädter auf Selbstständigkeit.

Noch eine irritierende Stimme möchte ich zitieren. Der Christlichsoziale Leopold Kunschak wendet sich aus wirtschaftlichen Erwägungen gegen die Zellteilung von Stadt und Land: »Wenn wir das untere Industriegebiet haben und auf das Marchfeld freiwillig verzichten, weil dort nur Bauern wohnen, haben wir uns den Weg und den Anschluss an die Tschechoslowakei ein für allemal verrammelt und ein Verbrechen an der Stadt begannen.«

Anschluss an die Tschechoslowakei? Soll das etwa die Revanche sein für das Anschlussverbot an Deutschland? Nein, Kunschak hält ganz einfach, wie viele andere, den Kleinstaat für nicht lebensfähig.

Der ehemalige Sattlergehilfe und christlichsoziale Arbeiterpolitiker Kunschak beendete 1953 sein politisches Leben als 1. Nationalsratspräsident. Bis dahin liegen noch vier Staatskonzeptionen auf der Strecke: Erste Republik, Austrodiktatur, Drittes Reich, Zweite Republik.

© Wolfgang Koch 2008
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