vonWolfgang Koch 06.12.2007

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

Karl Lueger, der »Herrgott von Wien« oder zumindest der Jungen ÖVP Währing, die heute noch Kränze an seinem Sarkopharg niederlegt, Karl Lueger plant um 1900 eine Metropole für vier Millionen Einwohner. Sein Werkzeug ist der Architekt Otto Wagner. Man könnte das natürlich auch umgekehrt sehen.

Tatsächlich plant Wagner, der den Karlsplatz mit der in Wien rücksichtlos bewunderten Karlskirche despektierlich »eine Gegend« nennt, die unbegrenzte Grossstadt – und das hat in dieser Zeit nichts Erschreckendes an sich. Kein Mensch fürchtet sich davor, von Arbeitskräften aus dem Osten »überrannt« zu werden. Niemand spricht von »Überfremdung« oder »Umvolkung«, wie das heute üblich ist.

Im Gegenteil: Wien ist ja in der Ära vor dem Ersten Weltkrieg, was den Grad der Modernisierung und der Industrialisierung anlangt, gegenüber Berlin schwer »rückständig«; in den Zwanziger- und Dreissigerjahren ist selbst Prag in der Architektur voraus.

Wagner behandelt die Moderne interessanterweise nicht als Qualität abstrakter Konzepte, sondern als eine Variante, komplexe Gesellschaften zu organisieren. Er konzipiert rund um einen Stadtkern ein System von Radialstrassen, Ringen und Gürteln für den Massenverkehr – und für jeden Bezirk notwendige Grünflächen, so dass sich die Stadt unbegrenzt ausdehnen kann, ohne Schaden zu nehmen und Schaden zu stiften.

Wagners genialer Entwurf ist ein absolut abgegrenztes Werk, ein Ganzes überblickbarer Entscheidungen, ein selbsterklärendes System.

Die Stadtplanung fördert gewöhnlich einseitig die zentralen Gebiete der Agglomeration. Aber der Prozess der Dezentralisierung, denkt Wagner, ist einen wichtige Perspektive für die Metropole.

In den Gesamtplan der gründerzeitlichen Rasterquartiere fügt er regelmässige Zentralen ein, die Feuerwehr- und Müllstationen enthalten, aber auch Leichenhallen, Kinderspielplätze, Schulen, usw. Satellitenstädte mit spezialisierter Funktion sollen ein Netz urbaner Hüllen um eine Kernstadt bilden. Nur so liesse sich eine für die Metropole unabdingbare Multifunktionalität erreichen.

Doch Wien wird nie so gross werden, wie es Lueger und Wagner in den Neunzigern erwarten. Bald funkt der Weltkrieg dazwischen, und dann noch einer.

Speziell beim Entwurf des Stadtbahnnetzes verfolgt Wagner die Vision einer alle Punkte miteinander verbindenden Grossstadt. Zur Ausführung kommen aber nur die Gürtel- und Vorortelinie, und selbst das nur zum Teil. Die Bundesbahnen zwingen die Gemeinde Wien, auf der Stadtbahn, die für Züge gebaut wird, mit Strassenbahnwagen zu fahren.

Trotz all der Fragmenthaftigkeiten von Neuwien: Das Ergebnis ist einmalig und bis heute unübertroffen! Torbauten ober der Erde entsprechen Pavillonbauten deutlich sichtbar über der subterran verlaufenden Strecke. Die Ausführung der Stadtbahnstationen variert selbst das Mauerwerk nach Entfernung vom Zentrum: Quader für die Vororte, Ziegel am Gürtel.

»An diesen beiden Bauwerken«, erklärt der Architekt Hermann Czech fast ein Jahrhundert später zu den Wagner-Stationen am Karlsplatz, »kann man sehen, wie weit die Stadt hinter ihrer Bahn zurückgeblieben ist«.

© Wolfgang Koch 2007
next: MO

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2007/12/06/kleine-wiener-stadtgeschichte-21/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert