vonSchröder & Kalender 29.11.2006

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
Hermann Nitsch hat uns zur heutigen Ausstellungseröffnung der ›Orgien Mysterien Theater‹-Retrospektive in die Nationalgalerie eingeladen. Weil ich (Barbara) meine Erkältung an Jörg weitergegeben habe, gehen wir beide nicht aus dem Haus und werden also von der Vernissage nicht berichten. Stattdessen erzählen wir etwas aus der Vorgeschichte zum ersten Buch von Hermann Nitsch:

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Bazon Brock empfahl mir, mich mit Hermann Nitsch zu beschäftigen, der damals noch kein Buch veröffentlicht hatte. Wenn man die schrille Diskussion in den 90er Jahren um seine Städel-Professur in Frankfurt verfolgt hat, obwohl der Mann doch inzwischen ein Weltkünstler war und seine Bilder Hunderttausende kosten, weißt du, was 1969 los war. Da galt Nitsch noch als perverser Künstler und seine Aktionen wurden von Staatsanwälten verfolgt.

Ich hatte mich für den Aktionismus bislang nur vage interessiert und Manuskripte von Mühl abgelehnt, weil sein Typus mir unangenehm war. Hermann Nitsch hingegen hatte eine gute Aura. Dazu kam meine Lust an der Provokation, so nahm ich sein Buch über das ›Orgien – Mysterien – Theater‹ für den Melzer Verlag an. Dann kam es zur Sezession und der Gründung des März Verlags. Ich besuchte den Künstler, der mit zum März Verlag gewandert war in einer verwunschenen Mühl in Ascholding bei Bad Tölz.

In diesem Haus lebte später Marina Raith, eine ›Jasmin‹-Fotografin. Sie hatte 1971 für uns die minderjährige Julia Heinemann für das Pornobilderbuch ›Love Love‹ fotografiert, das sie unter dem Pseudonym Rosa Camerada herausbrachte. Das Buch verkauften wir in einer Auflage von fünfzigtausend Exemplaren an Beate Uhse. Otto Schily vertrat mich gegen den Vater dieser Julia, weil ich angeblich seine minderjährige Tochter zur Pornographie verführt hätte. Die Sache wurde so gelöst: Julia Heinemann wurde wegen ihrer Schwangerschaft für volljährig erklärt und legitimierte ihre anrüchige Ausbeutung als nunmehr Volljährige nachträglich selbst. So blieb der Vater, der sich an Julias Mutter auf diesem Weg hatte rächen wollen, auf seiner künstlichen Empörung sitzen. Als Marina Raith aus dem ›Jasmin‹- und Pornobetrieb ausgestiegen und von der Glimmerfotografin zur Kräuterhexe mutierte, übernahm sie die Mühle, in der Nitsch gewohnt hatte. Der bezog damals sein Schloß in Prinzendorf.

1969 aber wohnte Hermann Nitsch noch in der Mühle mit Beate, seiner schwäbischen Frau, die ihren Künstler, den verfemten und verhaßten Blutsudler, unter ihren Fittichen hatte. Wie ich später erfuhr, war sie vermögend und kaufte das Schloß in Niederösterreich für sein ›Orgien – Mysterien – Theater‹. In Ascholding sah alles noch sehr nach Armut und Boheme aus. In der niedrigen guten Stube war ein riesiger Blutcanvas an die Wand gespannt, bettuchgroß. Hermann brachte den Doppler mit dem pissegelben Wunderwein heran, den er immer vorrätig hielt, er hatte immer den besten Wein um sich und in sich. Dann holte er, weil daraus Bilder entnommen werden sollten, den tausend Seiten dicken ›Atlas der forensischen Medizin‹ von Prokop. Darin blätterten wir, mit zwei Litern Wein im Leib, in dem Kapitel ›merkwürdige Leichenstellungen‹. Prokop war der Doyen der forensischen Medizin. Ein wissenschaftlicher Nekrophiler, der Tausende von Leichenstellungen, von meist durch Gewalt zu Tode gekommenen Menschen, aber auch durch Unfälle und andere fürchterliche Geschichten, gesammelt hat. Unglaublich, wie Leute sterben, allein vierzig Onanistenunfälle. Männer, die mit Kupferdrähten ihren Penis umwickelt haben und damit wahrscheinlich zeitweilig auch erfolgreich zum Orgasmus kamen, nur dann eben zuviel Strom drauf gaben. Ein König unter den nekrophilen Sammlern, auch ein begnadeter Entdecker von Würgemalen, dieser Prokop. Durch die Färbung von Würgemalen an Hand von Fotografien konnte er beweisen, wann ein Mensch gestorben war.

So bekam er im ›Kälberstrick‹-Mordfall den Metzger, der angeblich eine Frau ermordet hatte, in der Revision frei. Der Hetzel war ein Metzgerbursche, ein ziemlich roher Geselle, aber vermutlich nicht roher als andere Metzger. In einem Wirtshaus hatte sich ihm eine Frau angeboten, sie aßen zusammen eine Brotzeit, wie sich später aus dem Mageninhalt ergab. Schließlich fuhren sie zum Vögeln in den Wald. Zum Schluß fickte er sie in den Arsch, dabei erlitt die Frau einen Herzschlag. Das versetzte den Dumpfbeutel in kopflose Panik. Hetzel holte einen Kälberstrick aus dem Kofferraum, wickelte ihn der toten Frau um den Hals, würgte sie, zog zu und band ihr die Beine zusammen. Dann lud er die Leiche in den Kofferraum und warf sie auf eine Müllkippe, um einen Mord vorzutäuschen. Der Mann wurde entdeckt, man wies ihm nach, daß er die Frau mit dem Kälberstrick ermordet habe. Er leugnete, erzählte aber nichts über den Hergang, sondern sagte nur: »Ich war es nicht.« Als er bereits zehn, fünfzehn Jahre abgesessen hatte und immer noch behauptete: »Ich war es nicht«, beichtete er einem Rechtsanwalt, was wirklich passiert war. Daß er Analverkehr mit der Frau hatte und sie, ohne daß er sie gewürgt hatte, plötzlich tot war. Er habe noch versucht, sie wiederzubeleben, sie geschüttelt, alles, aber dann habe er eben mit dem Kälberstrick … Diese Version wurde auch in der Revision in Zweifel gezogen. Auftritt Prokop, der mit Akribie nachwies, daß die Verfärbungen am Hals der Toten, verglichen mit anderen, vergleichbaren Fällen und Fotos, untrüglich beweisen, daß der Strick der Frau erst, nachdem der Tod eingetreten war, um den Hals gelegt wurde.

Jetzt saß ich mit Nitsch in der Mühle, wir blätterten in Prokops forensischen Atlas. Wenn man sich das ansieht, auch ohne den Wein im Leibe, die Bilder, die Nitsch auswählte, beispielsweise aus der Abteilung ›Schraubenverletzungen‹, in der Kadaver und Kadaverteile von Menschen gezeigt werden, die lange im Wasser gelegen hatten, Menschen, die durch Schiffsschraubenverletzungen zu Tode gekommen waren, sind da abgebildet, dann hält der Schock an, aber ich begriff, worauf der Künstler hinauswollte. Ein solcher Kopf sieht marmorn, wie der einer griechischen Statue aus. Diese Ambivalenz zwischen kanonisierter Ästhetik der Marmorstatue und der Abbildung einer durch Schraubenverletzungen zu Tode gekommenen Person war interessant. ›Orgien Mysterien Theater‹ kam dann im Herbst 1969 im März Verlag heraus. Das Buch hat 346 Seiten und ebenso viele Abbildungen, erschien in deutsch und englischer Sprache in kleiner Auflage und war in der Herstellung sehr teuer. Aber wir hatten es ja – dank der sprudelnden Umsätze aus der Olympia Press wenn auch nicht für lange.

(BK / JS)

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