Zwei Jahre Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Nachdem das letzte Licht erlosch

Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ verlor Catherine Meurisse das Gedächtnis – und die Lust am Zeichnen. Wie beides wiederkam, erzählt ihr Buch.

Catherine Meurisse im dunkelblauen Hemd

Catherine Meurisse musste zeichnen, um zu ihrer Erinnerung zurückzufinden Foto: Rita Scaglia/Dargaud

Wenn es ihr wieder besser gehe, werde sie von ihren Erfahrungen in einem Comic erzählen – prophezeite ihr der Arzt. Und so kam es dann auch. Aber es war wohl andersherum. Weil sie einen Comic erzählte, ging es ihr wieder besser. Catherine Meurisse schrieb und zeichnete den Band „Die Leichtigkeit“ – was für ein Titel bei diesem Thema! –, der nun also auch in den deutschen Buchhandlungen vorliegt. Und ja, es gehe ihr schon wesentlich besser, bestätigte die ehemalige Charlie-Hebdo-Zeichnerin der französischen Presse. Wenn auch der Weg zur Genesung verschlungen gewesen sei.

Vor genau zwei Jahren passierte das alles. Am 7. Januar 2015 trat Catherine Meurisse ihren täglichen Weg in die Redaktion des französischen Satiremagazins an, mit Verspätung diesmal. Liebeskummer hatte sie an diesem Morgen länger als sonst unter ihrer Bettdecke verweilen lassen. Das rettete ihr das Leben. Als sie trübsinnig in die Rue Nicolas-Appert abbog, kam ihr auf dem Bürgersteig ihr Kollege Rénald Luzier, besser bekannt als Luz, entgegen: „Geh nicht rauf zur Zeitung“, warnte er, „bei ‚Charlie‘ gibt’s eine Geiselnahme.“ Plötzlich rief jemand: „Geht da weg!“ . . .

Und dann hörte sie das Knattern der Kalaschnikows.

Ab da weiß Catherine Meurisse nicht mehr genau, was mit ihr geschieht. Sie arbeitet weiterhin routiniert für die Satirezeitung, aber das Trauma hat sie noch längst nicht verarbeitet. Und während draußen „Je suis Charlie“-Hysterie herrscht, fragt sie sich innen drin: „Wer bin ich?“ Ihr Gedächtnis kommt ihr abhanden. Zeichnen geht nicht. Selbstmordgedanken kapern ihre Bilder.

Die Überlebenden definierten sich nur noch als „wir“

Auch Luz hatte der Anschlag beinahe den Verstand gekostet. Davon erzählt er in seinem biografischen Band „Katharsis“, der bereits im Mai 2015 erschien. Im Gespräch mit der Libération erinnert sich Catherine Meurisse: „Damit wagte er es, ‚ich‘ zu sagen – wobei wir uns, die Überlebenden, nur noch als ‚wir‘ definierten.“ Luz’ Alleingang habe sich angefühlt, als würde er sie im Stich lassen. Doch um seelisch nicht unterzugehen, sei dieser Schritt notwendig gewesen, habe sie später eingesehen. „Ohne es zu ahnen, verpasste er mir damals einen gewaltigen Tritt in den Hintern.“

Während draußen „Je suis Charlie“-Euphorie herrscht, fragt sie sich innen drin: Wer bin ich?

Folgerichtig unternahm sie zu der gleichen Zeit ihre erste grafische Flucht aus der Charlie-Hebdo-Blase: Sie zeichnete ein Bild in graubraunen Tönen, das sie zeigt, wie sie allein eine Sanddüne hinaufsteigt. Nun ziert dieses Bild das Cover ihres Bandes „Die Leichtigkeit“, der von ihrem Versuch erzählt, nach dem 7. Januar ihre Identität als Zeichnerin wiederzufinden.

Neben ihre gewohnten Werkzeuge und Materialien, schwarze Tusche mit Feder, haben sich bunte Pastell-, Stift- und Aquarellfarben gemischt. Dem daraus resultierenden Stilbruch ließ sie freien Lauf, als Ausdruck ihres inneren Durcheinanders.

Ihre Geschichte folgt trotzdem streng der chronologischen Ordnung. „Vorbei. Das war’s mit der Zeichnerei“, denkt sie am Tag nach dem Anschlag. In die qualvolle Redaktionsroutine wird sie durch eine Nachricht von Luz mit Titelvorschlägen für die nächste Nummer zurückgeholt. Doch: „Wie ging das noch mal?“ Schon auf der nächsten Seite sieht man sie fragend vor einem weißen Blatt sitzen. Aus dem Buchregal holt sie erst mal einen dicken Band, der alle Titelseiten Charlie Hebdos vom Gründungsjahr 1969 bis 1981 enthält.

Erste Frau im bis dahin rein männlichen Team

Catherine Meurisse wurde 1980 in Niort geboren. Nach einem zweijährigen Studium der Literatur in Poitiers wird sie an der renommierten École Estienne für grafische Künste und anschließend an den Arts Déco in Paris aufgenommen. 2001 nimmt sie an einem Wettbewerb für „Pressezeichnung“ teil und gewinnt den ersten Preis. In der Jury saßen die ehemaligen Charlie-Hebdo-Zeichner Bernard Verlhac aka Tignous und Philippe Honoré. Von ihr begeistert, luden sie Meurisse ein, doch mal die Redaktion zu besuchen. 2005 wird sie dann zum ersten festen weiblichen Mitglied des bis dahin rein männlichen Teams von Charlie Hebdo.

Für ihren ersten Arbeitstag zeichnet sie sich als verschüchtertes Kind in Schuluniform, schließlich waren Redaktionsmitglieder wie Cabu oder Wolinski damals bereits höchst angesehene Dinosaurier im Pressekarikaturbetrieb. Philippe Val, der damalige Leiter, empfängt sie mit folgender Rede: „Charlie wird dein Labor sein, du kannst dort machen, was du willst, Fehler machen, wieder von vorne anfangen.“ Das klang erst mal nach einem guten Programm.

Den hufeisenförmigen Redaktionstisch, deren beiden Spitzen „sich alle in die Eier gerammt haben“, zeichnet sie nach und versammelt dort ihre Kollegen, die Toten wie die Lebenden. Dem Leser gewährt Catherine Meurisse viele Einblicke in den frühen Redaktionsalltag. Das Heraufbeschwören der chaotischen Arbeitsstimmung findet sie hilfreich, um Mut und Lust am Zeichnen zu stimulieren. Doch durch ihre fiktiven Gespräche mit Charb, Tignous oder dem Korrektor Mustapha gelangt sie schließlich zur Erkenntnis: Nichts wird jemals wieder wie früher sein. „Jetzt, da ihr tot seid, interessiert mich die Pressezeichnung nicht mehr.“

Im Gegensatz zu beispielsweise Cabu habe sie sich immer eher als Zeichnerin denn als Journalistin verstanden, sagt sie im Gespräch mit ihrem deutschen Verlag. „Cabu wurde es nie leid, Politiker und die Hässlichkeit der Welt zu zeichnen. Um dieser Hässlichkeit nicht überdrüssig zu werden, habe ich mich intuitiv immer der Kultur zugewandt.“ Parallel zu ihrer Mitarbeit bei Charlie Hebdo illustrierte Catherine Meurisse Kinderbücher und veröffentlichte Graphic Novels über Protagonisten aus der Kunst- und Literaturwelt.

Alles Schöne hatte sich verabschiedet

Als dann am 13. November 2015 im Bataclan wahllos ihre Generation niedergeschossen wird, erlischt bei ihr das letzte schwache Licht, das da noch am Ende des Tunnels zu glitzern schien. Kurzerhand flüchtet sie nach Rom, in der Hoffnung, dort ihr eigenes Stendhal-Syndrom zu erfahren, „um das vom 7. Januar aufzuheben“. 1817 war der französische Schriftsteller Stendhal zu Besuch in Florenz und von der Schönheit der Kunst so ergriffen, dass ihn ein Schwindel ankam. „Genau, was ich jetzt brauche“, so Meurisse.

Mit dem Mord an ihren Freunden und Kollegen hatte sich das Schöne aus ihrem Leben verabschiedet. Den Verlust verbildlicht Meurisse gleich zu Anfang des Bandes, indem sie sich wandernd durch weiße, leere Museumsräume zeichnet. Die letzte Wand, die sie verschlingt, ziert eine kreischend farbenfrohe Version von Edvard Munchs „Schrei“, womit die Autorin bereits ihre Hoffnung visualisiert, ihr erlebtes Gewalttrauma mit Kunst konfrontieren zu können.

In Rom angelangt, werden ihre Konfrontationshoffnungen sogar übertroffen: Im Garten der Villa Medici empfängt sie gleich Balthus’ Skulpturengruppe der Niobiden, die das Massaker der Kinder Niobes durch Artemis und Apollo darstellen. Von der Villa Borghese bis zum Palazzo Massimo, überall wird gemeuchelt, gemordet, ins Jenseits befördert. Doch ausgerechnet durch die Betrachtung sublimierter Gewalt in klassischen Gemälden und Skulpturen kommt sie allmählich zur Ruhe.

Als dann am 13. November 2015 im Bataclan wahllos ihre Generation niedergeschossen wird, erlischt bei ihr das letzte schwache Licht, das da noch am Ende des Tunnels zu glitzern schien

Bei ihren täglichen Erkundungen sinniert Meurisse über die Sprengkraft der Kunst und deren Akzeptanz, stellt Thesen auf, relativiert sich selbst und schlägt zuweilen unbefangen fragwürdige Vergleiche vor – wie etwa zwischen Päpsten, die als Kunstmäzene in die Geschichte eingegangen sind, und einem radikalen Imam aus Molenbeek. Bei der Lektüre kann es dem Leser manchmal schwerfallen, zu wissen, ob die Autorin sich selbst therapeutisch auf die Schippe nimmt oder ihr Trauma doch noch federführend die Regie innehat.

Von Stendhals berühmtem Schwindelgefühl ist Catherine Meurisse jedenfalls verschont geblieben – und hat doch ihre Lebenslust und Erinnerung wiedererlangt. Davon zeugt „Die Leichtigkeit“, das als Hommage an die Kunst, die Schönheit und nicht zuletzt ihre verstorbenen Zeichnerkollegen zu lesen ist.

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