Zahl der Toten durch Corona: Über Sterblichkeit

Deutschland scheint die Epidemie im Griff zu haben. Zahlen anderer Ländern lassen vermuten, dass viel mehr Menschen an Covid-19 sterben als bekannt.

Transport eine Sarges von Personen in Schutzausrüstung.

Mehr Tote, als statistisch zu erwarten gewesen wären: Transport einen Covid-19-Opfers in Spanien Foto: Juan Medina/reuters

BERLIN taz | Die Zahlen, die das Robert-Koch-Institut am Donnerstag veröffentlicht hat, klingen gut. Weitere rund 3.800 Menschen, schätzt das Institut, sind in Deutschland von einer Corona-Infektion genesen. Insgesamt stieg die Zahl damit nicht nur erstmals auf über 100.000 wieder Gesunde. Zudem sinkt die Menge der akut Infizierten weiter. Sie liegt nun unter 45.000, so wenig wie zuletzt Ende März. Im Laufe des April war sie zwischenzeitlich auf rund 65.000 gestiegen.

Dass dennoch längst nicht alles wieder gut ist, erkennt man am Blick auf die Todeszahlen. 215 Menschen sind laut Robert-Koch-Institut am Mittwoch an Covid-19 gestorben. Eine Zahl, die sich seit gut einer Woche mit Ausschlägen nach oben und unten Tag für Tag wiederholt. Insgesamt sind jetzt bereits mehr als 5.000 Todesopfer in Deutschland zu beklagen.

Im internationalen Vergleich ist das immer noch sehr wenig. Doch es ist fraglich, ob das so bleiben wird, da sich Bund und Länder auf eine weitgehende Lockerung der Coronamaßnahmen geeinigt haben. „Ich bedauere es sehr zu sehen, dass wir dabei sind, diesen Vorsprung vielleicht zu verspielen“, warnte etwa Christian Drosten, der Virologe von der Berliner Charité am Mittwoch im NDR-Podcast. Und er verweist auf ein Phänomen, das mittlerweile in vielen anderen Ländern deutlich sichtbar wird: die sogenannte Übersterblichkeit.

Der Begriff taucht in den letzten Tagen zunehmend in der Diskussion um die Auswirkungen des Coronavirus aus. Er beschreibt anhand statistischer Berechnungen, wie viele Menschen in einem bestimmten Zeitraum mehr sterben, als üblicherweise aufgrund der Zahlen aus der Vorjahren zu erwarten gewesen wäre.

Und diese Zahlen sind tatsächlich dramatisch, wie eine Recherche der New York Times zeigt. Deren anschauliche Grafiken belegen, dass die Mortalität in zehn untersuchten Ländern deutlich gestiegen ist. Offenbar führt die Corona-Epidemie dort zu deutlich mehr Todesfällen als bisher bekannt.

60 Prozent mehr Opfer in Spanien

Für Spanien wurde zum Bespiel errechnet, dass vom 9. März bis zum 5. April 19.700 Menschen mehr gestorben sind, als statistisch zu erwarten gewesen wäre. Nach den offiziellen Angaben des Landes wurden im gleichen Zeitraum aber nur 12.400 Covid-19-Tote gemeldet. Das legt die Vermutung nahe, dass es tatsächlich 60 Prozent mehr Corona-Opfer gab, die aufgrund fehlender Diagnosen aber nicht in der offiziellen Zählung auftauchten.

Noch dramatischer sind die Zahlen für die eh schon hart vom Coronavirus getroffene Stadt New York. Dort starben zwischen Mitte März und Mitte April viermal mehr Menschen als für die Jahreszeit üblich. Zu den für diesen Zeitraum offiziell genannten 13.240 Covid-19-Toten müsste man laut New York Times nochmal rund 4.000 hinzurechnen. Bei solchen Zahlen scheint der englische Fachbegriff für Übersterblichkeit mehr als angebracht. Er lautet „excess deaths“.

Wie bei Statistiken üblich muss man natürlich auch diese Zahlen mit Vorsicht genießen. So ist es möglich, dass die Übersterblichkeit zumindest zu einem gewissen Teil nicht durch unentdeckte Covid-19-Fälle zu erklären ist, sondern auch durch Nebeneffekte des Lockdowns, wie etwa die britische Times kürzlich vermutete.

Beispielloser Anstieg in Großbritannien

Die Financial Times kam am Mittwoch aufgrund von Zahlen des Büros für nationale Statistik jedoch auch für das Vereinigte Königreich zu einer dramatischen Hochrechnung. Selbst bei konservativer Schätzung, so die britische Zeitung, müsse man von über 41.000 Covid-19-Toten in Großbritannien ausgehen. Das ist mehr als doppelt so viel wie die offiziellen Zahlen. Der aktuelle Anstieg der Mortalität sei „beispiellos“ und deutlich stärker ausgeprägt als in einer üblichen Grippesaison, werden Fachleute zitiert.

Damit könnte auch das bisher vielfach von Kritikern der Lockdown-Maßnahmen genannte Argument hinfällig sein: die Behauptung, dass durch das neue Coronavirus auch nicht mehr Menschen ums Leben kommen als durch eine übliche Grippe.

Bisherige Zahlen ließen diese Argumentation durchaus zu. So zeigen etwa die Kurven des „European mortality monitoring“ (Euromomo), dass es europaweit auch während der Grippewellen rund um den Jahreswechsel 2016/2017 sowie im Frühjahr 2018 eine deutlich sichtbare Übermortalität gab. Anhand solcher Statistiken wurde zum Beispiel berechnet, dass die letzten beiden Grippewellen in Deutschland je über 20.000 Todesfälle verursacht hatten, obwohl nur maximal 1.600 Fälle durch Laboranalysen bestätigt waren.

Die Ausschläge der Euromomo-Kurven der letzten Wochen zeigen jedoch derart steil nach oben, dass klar ist: Durch Covid-19 werden die bisherigen Höchstzahlen übertroffen. Der Rekordwert lag bisher in der zweiten Woche des Jahres 2017. Für hatte Euromomo errechnet, dass durch eine Grippewelle europaweit knapp 14.000 Menschen starben als erwartet. Für die 15. Woche dieses Jahres wurde schon eine Übersterblichkeit von 19.000 angegeben. Ein Wert, der laut Euromomo sogar noch steigen dürfte, da noch nicht alle Daten asu den letzten Wochen komplett sind.

Die Übersterblichkeit sei „sehr substanziell“, schrieb das Euromoma in seinem am Donnerstag veröffentlichten Bulletin. Sie treffe vor allem die über 65-Jährigen, sei allerdings auch bei den 15- bis 64-Jährigen sichtbar.

Unter den 24 bei Euromomo aufgeführten Ländern gibt es große Unterschiede. Besonders extreme Übersterblichkeiten gibt es demnach in Italien, Frankreich, Spanien, der Schweiz, Belgien, Holland und Großbritannien.

Aber auch in Schweden, das wegen seiner Laissez-Faire-Politik von vielen Kritikern der Lockdown-Maßnahmen gelobt wird, steigt die Übersterblichkeit. Sie liegt hier mittlerweile ebenfalls auf Rekordhöhe. In den Nachbarländern Norwegen und Dänemark, die sehr rigide Regeln erlassen hatte, ist hingegen kein Ausschlag nach oben zu erkennen.

Bisher kein Effekt in Deutschland sichtbar

Für Deutschland gibt es bisher keine aktuellen Zahlen zur Übersterblichkeit. Zwar veröffentlichte das Bundesamt für Statistik kürzlich eine erste Sonderauswertung zu ersten Sterbefallzahlen des Jahres 2020. Darin heißt es, dass „aktuell noch keine Hinweise auf eine Übersterblichkeit durch Covid-19“ erkennbar seien. Allerdings wurden für diese Analyse auch nur die Zahlen bis zum 15. März ausgewertet. Bis dahin gab es laut Robert-Koch-Institut gerade mal 12 bestätigte Corona-Tote in Deutschland. Einen statistisch sichtbaren Effekt konnte die Epidemie da also noch gar nicht haben.

Aktuelle Zahlen findet man – erneut bei Euromomo – nur für die Bundesländer Hessen und Berlin. Diese Kurven lassen bisher keinerlei Anstieg erkennen. Warum das so ist, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht erklären. Vielleicht hat Deutschland schlichtweg Glück gehabt. Wahrscheinlich lag es aber auch an den vergleichsweise früh erlassenen Kontaktbeschränkungen, die aber jetzt weitgehend aufgehoben werden.

Die Auswirkungen dieser Lockerungen werden sich bei den Infiziertenzahlen erst in ein bis zwei Wochen niederschlagen, bei der Zahl der Todesopfer dürfte es einen Ausschlag wohl frühestens Mitte Mai geben.

Der Virologe Drosten ist aufgrund der hohen Übersterblichkeit in Ländern wie Großbritannien schon jetzt äußert beunruhigt. „Uns wurde dies vor allem durch frühe und breit eingesetzte Diagnostik erspart“, twitterte Drosten. „Verspielen wir diesen Vorsprung nicht.“

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