„Wolfszeit“ von Harald Jähner: Ein Tanz über den Schlund

Entfesselt und emanzipiert: Mit Blick auf Erfahrungen von Frauen gelingt es in „Wolfszeit“, verdrängte Aspekte der Nachkriegszeit zu beleuchten.

Frauen auf der Flucht von Polen nach Berlin, den Eisenbahnschienen folgend

Frauen auf der Flucht von Polen nach Berlin, den Eisenbahnschienen folgend Foto: Fred Ramage/Hutton Archive/getty images

Auf Seite 179, im Kapitel „Liebe 47“ von Harald Jähners „Wolfszeit“ steht ein Satz, der die Entwicklung der ersten zehn Nachkriegsjahre zusammenfasst: „Die Atmosphäre verhärtete sich im gleichen Maß, in dem sich das Leben normalisierte.“ In ihrem Schlager „S.O.S. Ich suche dringend Liebe“ sang Ingrid Lutz 1946 noch: „Ich möchte dringend küssen, ich muss es heute noch wissen.“ Das illustriert Jähners Befund, dass sich nach 1945 eine beinahe anarchische Lust auf Leben Bahn brach, die erst allmählich dem Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung Platz machen musste.

Harald Jähner war bis 2015 Feuille­ton­chef der Berliner Zeitung und ist Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. Das merkt man seinem Buch über „Deutschland und die Deutschen 1945–1955“ an: Es ist sehr gut geschrieben und eine Kulturgeschichte im besten und weitesten Sinn. Jähner arbeitet mit vielen, zum Teil bekannten Quellen und Sekundärliteratur. Er zeigt, dass man durch Tagebücher, Romane, Filme, Gedichte und Lieder mindestens so viel über eine Gesellschaft erfahren kann wie durch Statistiken und Parteiprogramme.

Jähner hat sein Buch in zehn Kapitel unterteilt. Anfangs geht es um die Trümmerbeseitigung und um die 40 Millionen „Displaced Per­sons“ und andere „Enthei­mate­te“, also Insassen von Konzentra­tions­lagern, nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter, Ausgebombte und Vertriebene. Letztere beschreibt Jähner als „Agenten der Modernisierung“, die das „Ferment einer Entprovinzialisierung“ bildeten.

„Wolfszeit“ handelt vom Plündern, Stehlen und Hamstern, vom Schwarzhandel „als radikalisierter Markterfahrung“, von der Währungsreform und vom VW Käfer. Das Buch erzählt uns über die Liebe zu Comics und den Kampf gegen solchen „Schmutz und Schund“. Es widmet sich alliierten Entnazifizierungsmaßnahmen, Nierentischen und Beate Uhses „Versandgeschäft für Ehehygiene“.

Verdrängung der Naziverbrechen

Schließlich geht es ihm um die Verdrängung der Naziverbrechen als „Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik“, wie der Philosoph Hermann Lübbe 1983 schrieb.

Harald Jähner: „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955“. Rowohlt Berlin 2019, 480 S., 26 Euro

Der Titel „Wolfszeit“ bezieht sich auf die Phase des Übergangs nach den Verheerungen des Krieges. In dieser „Niemandszeit“, wie sie die Zeitgenossen auch nannten, schien „der Mensch dem Menschen zum Wolf“ geworden zu sein. Doch in seiner Betrachtung der „Stunde null“ übt Jähner Kritik an dieser Perspektive. Gewöhnlich tauche die Erinnerung die Vergangenheit in umso milderes Licht, je länger sie her sei, schreibt er. Im Fall der Nachkriegszeit sei es umgekehrt: „Sie wurde im Rückblick immer düsterer. Ein Grund dafür liegt in dem verbreiteten Bedürfnis der Deutschen, sich als Opfer zu sehen.“

Wie wild entschlossen direkt nach dem Krieg gefeiert wurde, zeigt Jähner im Kapitel „Tanzwut“. Allein die Zahl der Berliner Tanzlokale im Sommer 1945, die Jähner auflisten kann, ist beeindruckend. „Unser Juppheidi und unsere Musik sind ein Tanz über den Schlund, der uns angähnt“, schrieb Wolfgang Borchert 1947.

Tanzwut und Elend

Nicht allen war nach Feiern zumute, konstatiert Jähner, aber: „Die Schuld, die die Deutschen auf sich geladen hatten, war selten der Grund für die Empfindung, Spaß sei hier fehl am Platz; es war meist das eigene Elend, das die Laune vergällte, der Gedanke an den Mann in Gefangenschaft oder die Trauer um die gefallenen Angehörigen.“

Vor allem im ersten Teil seines Buchs, der deswegen der sozialpsychologisch interessantere ist, nimmt Jähner immer wieder die Perspektive der Frauen ein. Seine steilste These ist als rhetorische Frage getarnt: Ob die Massenvergewaltigungen durch Rotarmisten nicht eine „traumatische Begegnung mit Invasoren“ war, „die die Menschen über Generationen hinweg im Osten verschlossener werden ließ als im Westen“? Argwohn habitualisiere sich.

Protest gegen die deutsche Vergangenheit

Jähner widmet sich aber weniger den Gewalterfahrungen als den Liebesverhältnissen in einer Gesellschaft, in der ein Frauenüberschuss herrschte, weil viele Männer nicht überlebt hatten oder sich noch in Gefangenschaft befanden. Die Zurückgekehrten waren oft traumatisiert und kamen nicht damit klar, dass die Frauen gelernt hatten, autonom zu handeln – oder gar ihr Begehren nach lässigen GIs auch als „Protest gegen die deutsche Vergangenheit“ auslebten, wie Annette Brauerhoch es formulierte.

Die Nationalsozialisten hatten ein reaktionäres Frauenbild durchgesetzt, die Realität hatte viele Frauen emanzipiert. Nun wurde das Rad in Westdeutschland zurückgedreht: „In vielen Bundesländern wurden weibliche Beamte, die mit männlichen verheiratet waren, aufgrund ihrer guten Versorgungslage aus dem Dienst entlassen – vorgeblich auch zum Wohl der Kinder und einer ‚gedeihlichen Familienatmosphäre‘.“

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