Whistleblower Edward Snowden: Der Flüchtige par excellence

Gefangener in Zwischenräumen: Edward Snowden wandelt auf der Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität. Ein Held? Ein Verräter? Versuch einer Einordnung.

Der Täter als Fluchtopfer ist eine Schlüsselfigur der medial verfassten Spätmoderne. Bild: ts-grafik.de/photocase.com

„Auf der Flucht“ – so hieß die US-amerikanische Serie, die in Deutschland Mitte der 1960er Jahre Rekordeinschaltquoten erzielte. Die Story des unschuldig wegen Mordes an seiner Frau verurteilten Arztes Dr. Kimble, der seinen Häschern ausbüxte und nun als Gejagter den wahren Mörder aufzuspüren suchte, traf mitten ins Herz. Ins Herz einer Nation, die gerade dabei war, das historische Trauma millionenfacher Flucht und die daraus folgenden Integrationsprobleme abzuhaken.

Ob das nun, wie damals einige Soziologen glaubten, als Erklärung für den Erfolg taugt, mag dahingestellt sein. Schließlich war „The Fugitive“, wie die Serie im Original hieß, auch in den USA ein Renner. Der heute weltweit die Medien beherrschende Fugitive heißt Edward Snowden und ist nicht Teil einer TV-Soap, sondern der Realität. Mit Dr. Kimble teilt er das Schicksal, so scheint es, als Unschuldiger die wirklichen Täter dingfest machen zu wollen. Jedenfalls aber ist er, wie Kimble, auf der Flucht, ja, er ist derzeit der Flüchtige par excellence.

Flucht ist heute kein Ausnahmezustand, sondern ein Archetyp, eine prototypische Erfahrung der Moderne, die man in weiten Teilen der Welt als die Geschichte von Fluchtbewegungen lesen kann. Der Flüchtende ist Opfer und genießt deshalb so etwas wie eine Apriori-Sympathie – selbst wenn er aufgrund von Straftaten gesucht wird.

Edward Snowden hat das Asylangebot aus Venezuela offenbar angenommen. Das twitterte der dem Kreml nahestehende Abgeordnete Alexej Puschkow am Dienstag. (ap/rtr)

Ja, manchmal wird er – der bekannte Robin-Hood-Effekt – gerade dann interessant, wenn er zugleich „Täter“, handelnder Akteur ist, wenn sich die Rollen durchdringen. Das Wort „abschütteln“ gibt diese Ambivalenz gut wieder: Es bezeichnet zum einen den Versuch, Verfolger loszuwerden, aber auch das Verhalten erfolgreicher Jäger in der Tierwelt: Der Wolf schüttelt das am Nacken gepackte Beutetier ab, um ihm das Genick zu brechen.

Gemeinschaft von Raubtieren

Homo homini lupus: Der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, so der Philosoph Thomas Hobbes; die Menschheit ist demnach ein Wolfsrudel, eine Gemeinschaft von Raubtieren, die sich wechselseitig anknurren: allesamt potenzielle Täter, die ihren Platz verteidigen.

Demgegenüber bringt Snowden etwas Neues ins Spiel: Der Täter als Fluchtopfer ist eine Schlüsselfigur der medial verfassten Spätmoderne. Sie gibt Auskunft über die Existenz in Zwischenräumen, über ein permanentes Doppelleben und die grundlegende Ambivalenz aller Beziehungen.

Nicht zufällig sind die neuen Flüchtenden an der Schnittstelle von realer und virtueller Welt angesiedelt: Whistleblower sind aus dem Internet in unser Leben gesprungen wie weiland Woody Allens Filmheld Tom Baxter in „The Purple Rose of Cairo“ von der Kinoleinwand ins „Reale“. Das moderne Heldenepos besingt die Taten solcher medialer Irrfahrten zwischen den Stürmen des digitalen Ozeans und dem unsicheren Festland der Realität.

„Sag mir, Muse, die Taten des viel gewanderten Mannes, welcher so weit geirrt … Und auf dem Meer so viel unnennbare Leiden erduldet“: Homers Odysseus, der Prototyp des intelligenten Heros, der nach siegreich überstandenem Kriegsgemetzel beim Versuch heimzukehren zum Opfer der Elemente und der Launen der Götter wird, ist beides: der trickreich Handelnde (polytropos) und der vieles Erleidende (polytlas). Auch er ist Opfer und Täter in einem.

Opfer-Täter-Ambivalenz

Die Helden der Generation Internet bringen diese alte Opfer-Täter-Ambivalenz, die es erlaubt, sie wahlweise zu Helden oder Verbrechern zu stilisieren, in einer neuen Sphäre unter. Die Flucht ist ihr natürliches Habitat. Irgendwo da zu leben, wo es Leben eigentlich nicht gibt: im Niemandsland einer Botschaft, eines Flughafens, in selbst gewählter Haft, weggesperrt, unsichtbar – und doch als Medienstar. Das Internet, ihre genuine Heimat, ist eben Niemandsland. Was es für das Publikum so schwer macht, die Wanderer zwischen diesen Welten zu beurteilen. Sind sie nun Helden, Verräter, narzisstische Selbstdarsteller oder Gesinnungsethiker?

Wir urteilen darüber – das ist die intimste und folgerichtig die entscheidende Logik der vom Prinzip der Visualität geprägten virtuellen Weltgesellschaft, in der wir leben – in erster Linie nach ihren Gesichtern. Wir alle sind medienerprobte Antlitzdiagnostiker: Julian Assange, ein Narziss. Sein Handeln ist, das lesen wir aus seinem Gesicht, von egoistischen Werten, der suchtartigen Suche nach Aufmerksamkeit bestimmt. Bradley Manning hingegen ist ein Kind: unschuldig. Unklar, was ihn antreibt, aber man kann ihm glauben, sagt der mediale Face Check.

Und Snowden? Wir wissen es nicht, uns fehlen unendlich viele Informationen über ihn, eigentlich alle. Uns fehlen aber vor allen Dingen Bilder. Es gibt immer nur das eine: dieses bleiche Brillengesicht mit schütterem Dreitagebart, ohne Ausdruck. Es lässt alles offen, bietet eine leere Projektionsfläche für unsere Wertungen und Wünsche. Ist er doch auch nur ein öffentlichkeitsgeiler Windbeutel? Oder wirklich ein Held? Vorbehalte sind erlaubt, doch der Wunsch ist überwertig.

Keiner sagt es laut. Aber wir alle wünschen uns insgeheim einen weißen Ritter. Keinen Assange, der längst für diese Rolle abgeschrieben ist. Keinen Manning, der zu sehr Opferqualität hat, um ihn idealisieren zu können. Wir suchen nach einem Heldendarsteller, der essentiell „rein“ ist. Und der doch – mutig und klug – aufklärerisch handelt.

Die Reinheit repräsentiert in unserer Kultur das Opfer. Aber nur das Opfer, das zugleich das Zeug dazu hat, als „Täter“, als tatkräftiger Ankläger aufzutreten, kann die Rolle des Helden übernehmen. Die designierten Protagonisten einer neuen Odyssee sind omnipotente Opfer. Eine komplexe Rollenanforderung. Deshalb warten wir gespannt: Wird Snowden beide Rollenanteile erfüllen können?

Snowdens Utopie

Als neuer Odysseus kommt er nur durch, wenn er weiter die Balance von Jäger und Gejagtem halten kann. Im Klartext: wenn er mit Informationen aufwarten kann, die ihn selbst weiter dazu zwingen, ein Leben im permanenten Ausnahmezustand zu führen. Das aber verstößt gegen den in uns allen übermächtigen Wunsch nach einem Happy End.

Dr. Kimble hat es geschafft. Er konnte den wirklichen Täter stellen, durfte die Flucht beenden und heimkehren. Heimkehren durfte auch Odysseus, freilich um den Preis eines gewaltigen Blutbads, in dem er sich als Täter von den Leiden des Opfers reinwusch.

Snowden wird das Glück des sicheren Orts verwehrt bleiben. Er wird lernen müssen, dass seine Heimat der Unort, der U-topos ist, dem er verfiel, als er sich entschloss, sein Leben in der digitalen Welt mit dem realen zu vermischen. Er ist eine utopische Existenz. Uns bleibt, darüber nachzudenken, ob die von ihm verkörperte Utopie eine positive oder negative ist. Denn wir alle haben als Bewohner beider Welten, der analogen und der digitalen, an ihr teil – nur in weniger dramatischer Weise.

Der Autor ist Sozialpsychologe. Er lebt in Frankfurt am Main.

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