Wendeherbst 1989: Die erste Demo der DDR

Am 7. Oktober 1989 fand in Plauen die erste Demonstration gegen die DDR-Staatsführung statt. Ein Stadtbesuch – 25 Jahre später.

15.000 bis 20.000 Plauener zogen am 7. Oktober 1989 durch die Innenstadt Bild: Wolfgang Schmidt

PLAUEN taz | Das letzte Mal traf es Stanislaw Tillich von der CDU. Der Westen sei träge geworden, hatte der sächsische Ministerpräsident der alten Bundesrepublik attestiert und als Indiz die Proteste gegen Stuttgart 21 angeführt. Die Westdeutschen seien zu bequem für den Fortschritt, schwadronierte Tillich im Focus weiter. „Bei uns gibt es noch mehr Motivation“, lobte er seine Sachsen. Kohlekraftwerke, Autobahnen und Tagebaue – das ließe sich im Freistaat alles prima realisieren – ganz ohne Prozesse und Großdemonstrationen.

Die Antwort des Sachsen Jörg Schneider ließ nicht lange auf sich warten. „ ’Bequem‘ sind also jene Bürger, die sich gesellschaftspolitisch engagieren und sich gegen Steuergeldverschwendung und verfilzte Strukturen zur Wehr setzen. ’Fortschrittlich‘ hingegen sind jene, die in duldsamer Gleichgültigkeit, Lethargie und Resignation die Demontage von Demokratie und freier Marktwirtschaft hinnehmen!“, schlussfolgerte Schneider und veröffentlichte seine Replik bei der „Bürgerplattform für demokratische Erneuerung“ in Plauen.

„Das ist dreiste Volksverdummung und lässt Erinnerungen an alte Propaganda-Praktiken im damaligen SED-Staat DDR wachwerden“, so Schneider, der nicht vergaß, daran zu erinnern, dass Tillich im Revolutionsherbst 1989 als Mitglied der Ost-CDU noch Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises Kamenz war, ein DDR-Systemträger. Kurzum – ein erbärmlicher Opportunist glaubt sich wieder sicher genug, Bürgerprotest zu diffamieren und Untertanengeist zu empfehlen. Doch da kennt er Jörg Schneider schlecht.

Der Wutausbruch ereignete vor vier Jahren. Jetzt sitzt der 47-Jährige in seinem kleinen Wohnzimmer. Die Haare hängen tief in der Stirn, das Gesicht ist glatt, der Zungenschlag ist vogtländisch, dazu Jeans, kariertes Hemd, eine penibel aufgeräumte Wohnung. Ein Volkstribun?

Nichts deutet auf den Widerstandsgeist hin, der Schneiders Leben prägt und der von Zeit zu Zeit aus ihm herausbricht. Horst Köhler hat das schon zu spüren bekommen, der SPD-Bundesvorstand, der Landrat, Tillich.

Und natürlich die Plauener. „Bürger! Überwindet Eure Lethargie und Gleichgültigkeit! Schließt Euch zusammen! Es geht um unsere Zukunft!“ Sätze, wie fürs Megafon bestimmt. Schneider hämmerte sie Anfang Oktober 1989 hundertfach in eine Schreibmaschine. Zum 7. Oktober 1989, dem „Republikgeburtstag“, rief er die Plauener zur Demonstration auf – für Versammlungsrecht und Streikrecht, für Meinungsfreiheit, freie Wahlen und Reisefreiheit. Eine „Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft“ wiegelte die Plauener auf. In Wahrheit war es Jörg Schneider.

Die Stasi schickte die Hunde los

Die Zettel verteilte er mit zwei Freunden nachts in Telefonzellen und Hauseingängen. „durch den faehrtenhund wurde die spur bis zur bahnhofshalle des oberen bahnhof plauen verfolgt“, drahtete die Plauener Stasi an die Bezirksverwaltung Karl-Marx- Stadt. Doch Schneider blieb unentdeckt.

„Es ging darum, dass man eine Demonstration organisieren muss.“ Wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Seit August 1989 habe er sich den Kopf zerbrochen, wie er möglichst viele Plauener auf die Straße kriegt. Er hatte schon einmal Zettelchen in Kaufhaus-Auslagen verteilt und zum Schweigemarsch aufgerufen – ohne Resonanz. Woher kommt die Entschlossenheit? Schneider erzählt von der Erniedrigung bei den DDR-Grenztruppen, davon, dass er als 19-Jähriger den eigenen Käfig auch noch selbst mit der Kalaschnikow bewachen musste. „Während dieser Zeit habe ich mir geschworen, gegen dieses Regime musst du was unternehmen.“ Es ist einer der wenigen Schneider-Sätze, die Pathos verströmen.

Die Stasi hätte in den Oppositionsgruppen lange nach einem jungen Mann mit Zornesfalten in der Stirn, Latzhose und langen wilden Haaren fahnden können – sie hätten den Aufrührer von Plauen nicht gefunden. Schneider arbeitete in einer Werkzeugmacher-Brigade, eine Truppe, die im volkseigenen Betrieb geradezu subversiv agierte. Ein kompliziertes Türschließsystem hielt missliebige Vorgesetzte auf Distanz. Schneider war Mitinitiator des Werkstattkurier, einer satirischen Brigadezeitung. „Wir waren alles staatsfeindliche Elemente“, sagt er stolz. „In unserer Werkstatt hat schon das Grundgesetz gegolten.“

Die Generalabrechnung

Sein Vater, ein gläubiger SED- Genosse, hatte von all dem keine Ahnung. Da formulierte der Sohn schon den Aufruf an die „Bürger der Stadt Plauen“.

Es ist eine Generalabrechnung mit der DDR. Er prangert Wahlbetrug, Volksverdummung, Verleumdung, Militarisierung an und ruft zum Widerstand auf: „Veränderungen können nur ERZWUNGEN werden. Was wollen wir noch alles über uns ergehen lassen?“ Es gehe schließlich auch um die Würde. Wenn man die Zeilen heute liest, wirkt es, als habe da einer wie im Rausch formuliert, als hätte ein junger Mensch eine Ahnung von der eigenen Stärke bekommen – und einen Vorgeschmack auf die Freiheit.

Jörg Schneider legt den kleinen Handzettel auf den Tisch. Die zweiseitige Philippika war viel zu lang. Und so extrahierte er noch einmal einen 16-zeiligen Aufruf. Die Endfassung.

„Dann kam langsam die Idee, am 7. Oktober eine Gegendemonstration zu veranstalten.“ Warum nicht das offizielle Volksfest zum 40. Jahrestag der DDR als trojanisches Pferd nutzen? Welcher Stasi-Aufklärer wollte es den Plauenern ansehen, ob sie zum staatlichen Ringelpietz oder zur Protestdemonstration unterwegs sind, wenn beide zur selben Stunde angesetzt waren?

„Die Idee ist auf meinem Mist gewachsen“, sagt Schneider und grinst jetzt. „Soll ich die Schreibmaschine mal vorholen?“ Er bückt sich, hebt eine Kiste hoch und lüftet den angestaubten Deckel. Eine Robotron-Schreibmaschine, viel orangefarbene Plaste, nichts Besonderes. Und in der DDR doch eine Rarität mit subversivem Potenzial. Ein Kollege hat sie ihm geborgt, ohne genau zu wissen, wofür. Mit Schreibmaschine, Papier und Kohlepapier eine ganze Stadt in Aufruhr versetzten – wer kann das von sich behaupten?

„Es war ein erhebendes Gefühl“, als er an diesem regnerischen Nachmittag die Innenstadt sah, „schwarz vor Menschen“, die Leute standen dicht an dicht – 15.000, 20.000 Demonstranten. Glückshormone habe das produziert. „Man hat gespürt, dass die Leute mitmachen.“ Die Angst war weg. War sonst noch irgendwas geplant? Schneider schüttelt den Kopf. „Wir haben gehofft, dass sich was spontan entwickelt.“ Und es entwickelte sich: Einer rief: „Gorbi!“ Andere stimmten ein. Der erste Sprechchor. So wie zur selben Stunde auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig und vor der Gethsemanekirche in Ostberlin. Der Unterschied: In Plauen im südlichsten Zipfel der DDR wich der Staat zurück, erstmals. Der Wasserwerfer wurde abgezogen, der Hubschrauber, der im Tiefflug die Menschen in Schach halten sollte, drehte ab. Es muss wie eine Kapitulation gewirkt haben.

„Da sind mir Schauer über den Rücken gelaufen“

Dann zogen die Plauener durch die Innenstadt, schrien ihre Forderungen aus dem Leibe: „Reformen!“, „Neues Forum“ und immer wieder „Freiheit!“ Anderswo knüppelte zur selben Stunde Polizei auf Demonstranten ein, doch in Plauen, einer Stadt mit knapp 80.000 Einwohnern, hatte das Volk gesiegt. „Da sind mir Schauer über den Rücken gelaufen.“ Hat er am Abend gefeiert? Nein, er hat sich mit einer Erkältung ins Bett gelegt.

Es ist inzwischen halb elf am Abend. Schneider muss morgen wieder früh raus. Er arbeitet seit 1994 in einem Vermessungsbüro. Wollte er nie in die Politik gehen? Immerhin war Schneider Mitbegründer der Ostgruppe der Sozialdemokratischen Partei der DDR und hatte die Möglichkeit, sich 1990 für die Volkskammerwahl aufstellen zu lassen. Schneider winkt ab. Stundenlang in Versammlungen sitzen? Nein, das sei nichts für ihn. „Ich mache praktische Revolution.“

Als die SPD die Agenda 2010 beschließt, tritt Schneider aus. Er ist arbeitslos, verschickt über 40 Bewerbungen. Erfolglos. Wieder kocht es in Jörg Schneider hoch: Das Vogtland stirbt einen leisen Tod und die Parteien inklusive SPD überbieten sich gegenseitig als „Steigbügelhalter und Marionetten von Großkonzernen und Monopolen“, greift er in seiner Austrittserklärung den SPD-Bundesvorstand an. Seitdem engagiert sich Schneider in der Plauener „Bürgerplattform für demokratische Erneuerung“, einer Initiative alter Kämpfer aus dem Wendeherbst 89. Ihr Kandidat erhält zur Landtagswahl im August 460 Stimmen in Plauen, bei einer Wahlbeteiligung von 46,5 Prozent. Das ist das, was Schneider am meisten erschüttert. Was ist eine Demokratie wert, bei der weniger als die Hälfte abstimmen? Die Plauener, die vor 25 Jahren freie Wahlen forderten, haben das Wählen wieder satt.

Die letzten großen Betriebe werden gerade geschlossen. Die Stadt leert sich, mit Folgen, weit ins Persönliche hinein. Es sei inzwischen schwierig, eine Partnerin in seinem Alter zu finden, gesteht Schneider. Höchste Zeit für einen neuen Aufruf? Schön wär’s. „Da würden nur fünf Hanseln kommen, die sich gegenseitig angucken.“

Dass Jörg Schneider der Aufrührer von Plauen war, blieb lange unbekannt. Überhaupt ging der Triumph von Plauen in den sich überstürzenden Ereignissen im Herbst 1989 unter. Aber nicht in Plauen selbst. 2010 enthüllen die Plauener Bürger ein Denkmal, das an ihren Sieg erinnert. „Am 7. Oktober 1989 fand in Plauen die erste Massendemonstration gegen das DDR-Regime statt, vor der die Staatsmacht kapitulieren musste“ steht seitdem auf einer stilisierten, 3,50 Meter hohen Kerze. Der Festredner war Stanislaw Tillich.

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