WM in der russischen Provinz: Endlich ist mal was los

In Saransk freuen sich die Menschen über das Fussball-Event. Die Infrastruktur ist besser geworden und ein Nebenverdienst fällt auch noch ab.

Ein Fan vor einer Kathedrale

Peruanischer Fußballfan in Saransk. Am Samstag spielt Peru dort gegen Dänemark Foto: ap

SARANSK taz | „Saransk? Austragungsort der Fußball WM?“, wundert sich Vermieterin Olga noch heute. „Niemand konnte das damals glauben.“ Inzwischen verdient auch sie durch den Rummel um die Weltmeisterschaft ein bisschen zum Lohn dazu. Wie es zu dieser Entscheidung kam? Welche Versprechen waren damit verbunden? Das weiß in Saransk niemand. Zumindest spricht keiner darüber, schon gar nicht im Beisein von Fremden.

Saransk ist für russische Verhältnisse mit 300.000 Seelen eine kleine Stadt. Obwohl Hauptstadt einer Republik: Mordwinien oder „Mordowija“ auf Russisch. In zehn Stunden schaukelt der nächtliche Expresszug den Reisenden in den rund 650 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen Ort. Es ist eine gemütliche Reise in eine gemütliche Stadt, die von der Fußball-WM ein zweites Mal entdeckt wurde. Was von Aufregung, Hektik und Aufwand nach dem Wettbewerb bleibt, ist noch offen.

Ein Facelifting erfuhr der Ort auf jeden Fall, und niemand nörgelt über den Unsinn sportlicher Großveranstaltungen. Ausnahmsweise hat dies nichts mit politischer Bevormundung zu tun. „Endlich asphaltierte Straßen“, freut sich Brunnenbauer Sergei Antonowitsch. Auch die Kioskbetreiberin im Zentrum ist begeistert. „Jetzt ist mal was los bei uns, 74 Jahre musste ich warten“, lacht sie. Die WM ist angekommen und wird angenommen. Fast rührend sind die jungen Assistenten bemüht, den Fremden zu helfen. Englisch ist noch kein Schwerpunktfach. Eigentlich ist Russisch in Mordwinien die erste „Fremdsprache“.

Die Titularnation der Republik sind die Mordwinen. Deren beiden größten Stämme sind die Ersja und Mokscha. Ihre Sprachen gehören zur finnougrischen Familie. Nord- und Zentralrussland sind übersät mit kleinen Völkern dieser Sprachfamilie, zu der neben den Finnen auch die Esten zählen. Die kleinen Stämme bewohnten die Waldgebiete schon, bevor slawische Völker anrückten und das Regiment übernahmen.

Galten die Esten am Ende der Sowjetunion als aufsässig und freiheitsliebend, wird den Mordwinen in der Wolgaregion eher nachgesagt, besonders anpassungsfähig zu sein. Der russische Hausherr behauptet das zumindest. Anpassungsfähig ist nicht selten ein Euphemismus für jahrzehntelange Assimilierungspolitik. „Die meisten Einwohner sprechen nur noch Russisch“, meint Jewgeni Schirikow, Dozent an der örtlichen Hochschule. Rund 40 Prozent geben als Nationalität noch mordwinisch an. Russen stellen die Mehrheit. In Saransk spricht fast jeder Russisch.

Straßennamen in drei Sprachen

Die MGU, die Mordwinischen Staatliche Uni­versität, nutzt zufällig die gleiche Abkürzung wie Moskaus berühmteste Alma mater. Äußerlich hat sich die Uni sogar an den stalinschen Zuckerbäckerstil angepasst. Türme und Simse stammen allerdings aus Fertigproduktion. Die Straßennamen in Saransk sind dreisprachig, aber leicht zu entziffern. Auf Mokscha oder Ersja klingt die Bolschewistkaja Straße sehr ähnlich, auch die Sowjetskaja oder Revoluzionaja sind leicht zu erkennen.

Niemand hielt es nach dem Ende des Kommunismus für notwendig, Straßen umzubenennen. „Die neuen sind auch die alten geblieben“, schmunzelt Brunnenbohrer Antonowitsch. Er meint damit aber die Politiker, die später bei Wladimir Putin unterschlüpften.

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Mordwinien ist nicht nur eine Republik der Steher (und Putin-Versteher). In Russland genießt es auch wegen der Profigeher einen herausragenden Ruf. 2012 fand die Weltmeisterschaft der Geher in Saransk statt. Die Wälder in und um die Stadt sind von Athleten überlaufen. Schon in der Grundschule beginnt das Training. Wer der Provinz entkommen möchte, muss Gehen erlernen. Unzählige Medaillen gewannen die Leichtathleten.

Der Trainer ist eine Legende, auch nachdem ihn die Dopingaufsicht als „affin“ entlarvte und Medaillen aberkannt wurden. Seinem Ruf schadet das nicht. „Einmal olympisches Gold, und du hast es geschafft, du bist hier ein Rockstar“, meint Sergei Ignatenko, Taxifahrer im Nebenberuf und wohl einer der wenigen Fußballfans der Stadt.

Sonst gilt eher: Fußball-WM ja, aber Fußball? Der Verein FK Mordowija Sarańsk verwöhnt die Stadt nicht. Nach dem Abstieg in die Dritte Division schaffte der Klub den Wiederaufstieg in die Zweitklassigkeit durch einen Sieg über den FC Sysran 2003. Mehr als 3.000 Zuschauer hat der Verein selten, dafür aber ein neues Stadium mit einem Füllvermögen von 45.000 Menschen.

Sarańsk ist Austragungsort für vier WM-Spiele:

16. 6. Peru – Dänemark; 19. 6. Kolumbien – Japan; 25. 6. Iran – Portugal; 28. 6. Panama – Tunesien

Nicht unterschlagen werden darf: Mordwinien ist eine riesige Strafkolonie des Gulag-Systems. Für straffällige Ausländer meist die erste Adresse. Auch die Frontfrauen der Punkgruppe Pussy Riot verbüßten ihre Strafe für „Schüren religiösen Hasses“ in einem dieser Lager.

Freiwillig siedelte sich der französische Schauspieler Gerard Depardieu an. Repu­blik­chef Wladimir Wolkow half ihm 2013, sich steuerlich bei ihm niederzulassen. Danach eröffnete der Steuerflüchtige ein Kinozentrum, ward aber nicht mehr gesehen.

Für Werbezwecke weniger verwertbar: Saransk ist einsame Vorreiterin der Mülltrennung in Russland. Nirgends ist es sauberer als hier. Warum aber nun Saransk als WM-Ort? Ein Erklärungsversuch: Die Republik garantierte auch in angespannten Zeiten Rekordwahlen für den Kreml.

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