WM-Belletristik auf Twitter: Der Spieleleser

US-Starautor Teju Cole ist der beste WM-Twitterer. Seine Tweets gleichen seinen Romanen. Er verbindet Fußball mit Kunstgeschichte, Literatur und Politik.

Den Fußball auf dem Schirm: Teju Cole. Bild: Teju Cole

Die große Erzählung über diese WM gibt es bisher nicht. Auffällig abwesend sind Interventionen, Kommentare, Vignetten von fußballaffinen Literaten. Dabei fing es ganz vielversprechend an, als The New Republic vor Beginn der WM elf Literaten bat, die großen Stars der WM zu porträtieren, darunter den norwegischen Bestsellerautor Karl Ove Knausgård, der den Argentinier Ángel di María mit Franz Kafka verglich („Er sieht aus wie Kafka und spielt wie ein Traum“).

Vielleicht liegt es daran, dass es sie sowieso nicht mehr gibt, die große Erzählung im Allgemeinen und die beim Fußball im Besonderen. Vielleicht liegt es auch daran, dass es bei diesem Turnier kein spielerisches Material gibt (kein Tiki-Taka, kein Catenaccio), das die Klammer für eine große Erzählung liefern würde – sieht man mal von dem „kontrollierten“, „sachlichen“ deutschen Spiel ab, aber Neue Sachlichkeit ist als literarisches Genre nicht gerade aktuell.

Wie bei vielen anderen Ereignissen finden sich auch zur WM die literarischsten Kommentare bei Twitter. Vom Russland-Korrespondenten des Guardian, Shawn Walker, über den BBC-Kommentator Gary Lineker bis zur Autorin Sybille Berg – ohne die 140-Zeichen-Perlen wäre diese WM sprachloser.

In Deutschland gilt Twitter immer noch als irgendwas für Nerds. Anderswo ist das anders. Aber auch in den USA oder Großbritannien halten sich Literaten während der WM zurück. Der einzige von Weltrang, der da mitmischt, ist der US-amerikanische Starautor Teju Cole. Die literarische Weltmeisterschaft hat er allein deswegen schon gewonnen.

Teju Cole: "Open City". Aus dem Amerikanischen von Christine Richter-Nilsson. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2013, 333 Seiten, 10,99 Euro.

Atemberaubend und unerschöpflich

Als Sohn nigerianischer Studenten wurde Cole in Michigan geboren, wuchs in Nigeria auf und ging mit 17 wieder in die USA, wo er heute in Brooklyn lebt. So wie der 38-Jährige Autor, Kunsthistoriker und Fotograf seit seinem Debütroman „Open City“ in den Literaturhimmel gehoben wurde, so gehören seine WM-Tweets mindestens in den Twitter-Himmel. Es dürften mittlerweile 1.000 sein. Denn jedes, wirklich jedes Spiel kommentierte Cole parallel auf Twitter.

Sein Repertoire ist atemberaubend und scheint unerschöpflich. Nicht nur kann er ein Spiel tatsächlich lesen, sprich, er weiß, was er da sieht, weil er Zeit seines Lebens Fußballfan ist. Zu dem, was er fußballerisch sieht, assoziiert er immer wieder Bilder aus der Kunst-, Kultur- und Literaturgeschichte und piekst seine über 157.000 Follower mit politisch scharfen Pfeilen.

Denn Cole ist nicht einfach Kulturmensch, sondern das, was man früher mal den Intellektuellen nannte: Einer, der sich unbedingt einmischt in politische Debatten. Und einer, der sich für Fußball interessieren muss. Denn es ist immer noch das einzige Ereignis, an dem die ganze Welt teilnimmt und das alle verstehen können.

Denn es ist: ohne Worte. Und Worte für etwas zu finden, worüber zwar jeder plaudern, aber nur wenige wirklich sprechen können, ist die Kunst der Literatur. Cole selbst twitterte, dass er während der WM da ist, um die Schwarzen zu repräsentieren – durch Worte.

Löws „no-drama“-Mannschaft

Seine Kommentare sind witzig: „Ich behaupte nicht, dass Robben getaucht ist. Aber das Sprungbrett hat „Klong“ gemacht und danach war ein Aufschlag zu hören“ (im Englischen wird das Schwalbenspiel als „dive“, also tauchen bezeichnet). Kalauernd: „Guillermo ’CTRL S‘ Ochoa“. Philosophisch: „Fußball ist ein Nullsummenspiel. Schlägt ein starkes Team ein unwesentlich schwächeres Team, geht das selten ansehnlich: Echte Schönheit kommt von schlechter Verteidigung.“ Aphoristisch: „Fußball ist näher am Realismus als jeder andere Sport. Die Willkür spielt eine glorreiche und verzweifelte Rolle darin“, und er spricht mit seinen über 157.000 Followern: „Exzellente Rückhand* (Gucke kein Tennis. Dachte nur, ich werfe euch mal einen Knochen hin.)“

Leidenschaftlich war er ausnahmslos für alle afrikanischen Teams. Mit großer Trauer reagierte er bei deren Ausscheiden. Seine Kommentare zu den Spielen von Ghana, Nigeria, Algerien und Kamerun waren aber nicht wütend, sondern sportlich.

Wütend machte ihn, dass die Beiträge der TV-Kommentatoren das nicht waren: „Was mein ganzes Leben als Fußballzuschauer begleitet: Afrikanische Mannschaften und Spieler werden schnell, körperlich, aggressiv, unorganisiert, strategisch oder nüchtern genannt.“ Als während der WM in Nigeria Fußballzuschauer durch eine Bombe ermordet wurden, twitterte er: „Nigeria. Zu viel Realität“.

Natürlich hätte er gern eine afrikanische Mannschaft, Mexiko oder Costa Rica im Finale gesehen. Die USA eher nicht. Sein Heimatland war das einzige Team, bei dem Cole die Politik des Landes höher bewertete als das, was auf dem Rasen stattfand. Als Verehrer des Jogi-Fußballs jubelt er über den Finaleinzug: „Deutschland sieht cool aus, ruhig, kontrolliert. Die „no drama“-Mannschaft“. „Sie spielen das Spiel wie einen Song.“

Hattrick für den Fußball

Coles Tweets lassen sich wunderbar als bessere Fußballkommentare während eines Spiels lesen. Es ist gute, weil kenntnisreiche Sportberichterstattung und gute, weil niveauvolle Unterhaltung.

Für Cole ist Twitter keine Ablenkung vom eigentlichen Schreiben, sondern eine Verlängerung. Sein Roman „Open City“ wurde vergangenes Jahr mit dem Berliner Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. Er beginnt mit einem deutsch-nigerianischen Psychiater, der „im Schritttempo“ und „ziellos“ durch Manhattan läuft, um sich von Orten und Geräuschen in einen Sog ziehen zu lassen, der Erinnerungen und Assoziationen an sein Leben als Schwarzer unter Weißen auslöst.

Das „Schritttempo“, mit dem der ganze Roman erzählt ist, ist alles andere als das Tempo von Twitter. Aber der Rausch von Assoziationen, der auf Twitter entsteht, ist das, was Cole fasziniert. Obwohl er selten spontan twittert, sondern mehrere Entwürfe anfertigt, bevor er auf „Twittern“ tippt.

Fußballfreunde und Literaturfans haben nicht viel gemeinsam. Aber Cole schafft einen Hattrick: Er verbindet Fußball mit Literatur, Literatur mit Twitter und Fußballmuffel mit Fußball.

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