WEDDING: Komische Kollisionen

In der Brunnenstraße, nahe an Mitte, findet zum siebten Mal ein von einer Wohnungsgesellschaft initiiertes Modefestival statt. Auch deshalb hat sich zwischen tristen Zehngeschossern und Spielcasinos ein kleines Nest junger Kreativer angesiedelt.

Längst nicht mehr die einzigen Kreativräume im Wedding: Spielcasinos. Bild: DAPD

Es kommt zunächst nicht anders als erwartet. Direkt hinter der Bernauer Straße wird es in der Brunnenstraße Richtung Norden ungemütlich. Statt der pittoresken Berliner Mietskasernen rücken triste Zehngeschosser aus den Siebzigern ins Bild – die Fenster und Erker wirken so charmant wie Rechenkästchen. Hier gibt es keine Biosupermärkte und Buchläden, sondern einen Aldi, einen Obi, eine Tankstelle und jede Menge Spielcasinos und Wettbüros. Bei Janny‘s Eis teilt sich ein Rentnerpaar in beige einen After-Eight-Becher. Eine schöne Frau mit Kopftuch in türkis schiebt einen Kinderwagen vor sich her. Nur wenige hundert Meter von Mitte entfernt befinden wir uns schlagartig im einstigen „Armenhaus Berlins“, wo in den Sechzigern und Siebzigern drei Viertel der Altbauten durch Neubauten ersetzt wurden, in die junge Arbeiterfamilien einzogen. Viele von ihnen Einwanderer.

Tiefster Wedding also – aber auch nur eine Seite der Erzählung. Wer nämlich direkt hinter der Kreuzung zur Stralsunder Straße, gleich beim Restaurant Dalmacija, vom Fahrrad steigt, der wird mit einer Überraschung belohnt. Zwischen den hässlichen Flachdach-Pavillons und hinter den Wettbüros beginnt eine feine, kleine Insel der Kreativen. Mitten im Niemandsland hat es das Berliner Wohnungsunternehmen Degewo tatsächlich geschafft, eine Handvoll Künstler, Modedesigner und Gastronomen dauerhaft nach Wedding zu locken – und zwar seit der ersten Ausgabe des Modefestivals Wedding Dress, das an diesem Wochenende zum siebten Mal stattfindet; aber auch mit günstigen Extrakonditionen für junge Kreative. Man kann es Gentrifizierung von oben nennen. Man kann aber auch sagen, der Kiez ist zum Preis einiger komischer Kollisionen tatsächlich interessanter geworden.

Gleich am Anfang, in einer Art Fußgängerzone, die an westdeutsche Kleinstädte von Stadtallendorf bis Wipperfürth erinnert, hat sich etwa das Kreativzentrum Supermarkt angesiedelt. Hier finden auf 900 Quadratmetern Konferenzen, Workshops und Events statt. Außerdem vermietet der Supermarkt an Anwälte, Unternehmensberater und Programmierer 25 Schreibtische in vier benachbarten Studios. Die drei Gründer – Kuratorin Ela Kagel sowie die IT-Unternehmer David Farine und Zsolt Szentirmai – sorgen von „digitale Medien“ bis „soziale Innovationen“ und „alternative Ökonomien“ für spezielle Inhalte, die sehr gezielt Menschen aus ganz Berlin ansprechen.

Diesen Samstag und Sonntag findet zum 7. Mal auf der Brunnenstraße zwischen den U-Bahnhöfen Bernauer und Voltastraße die Wedding Dress für "urban fashion and art" statt, initiiert von Berlins größtem Wohnungsunternehmen Degewo. 30.000 Besucher werden dazu erwartet.

Neben Verkaufsständen von über 150 Berliner Designern gibt es drei Modeschauen: die Claudiavitale am Samstag um 16 Uhr, die Osmers um 17.30 Uhr und die DaWanda-Kindermodenschau am Sonntag um 15 Uhr. Zum ersten Mal finden auch Konzerte zahlreicher Bands statt. Außerdem sehenswert: der Supermarkt, die Modepioniere und die Bar Volta in der Brunnenstraße 64, 67 und 73.

Die lichte Cafébar allerdings, erzählt Mitarbeiterin Eloisa Suarez bei einem Latte Macchiato, hat montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr geöffnet und zieht schon seit ihrer Eröffnung im vergangenen Januar auch Leute an, die in der Gegend leben oder arbeiten. „Und trotzdem“, so Eloisa mit einem Schulterzucken: „Viele Nachbarn interessieren sich nicht für uns. Sie würden nie hier reinkommen.“

Eloisa ist sich nicht sicher, ob dieser Ort nicht auch eine künstliche Blase ist. Und ob er nicht für immer eine Art Fremdkörper im Kiez bleiben wird.

Es geht weiter. Vorbei an Akan Möbel – hier gibts weiße Kunstledersofas –, vorbei an Holly‘s Waschtheke und an der Brunnen 70, einer Kellerdisco ohne Eingangsschild, wo angeblich seit zwei, drei Jahren wilde Partys stattfinden, auf denen auch mal Fußball gespielt, Waffeln gebacken und Körper bemalt werden. Gleich daneben residieren seit 2005 die „Modepioniere“: Eine Gemeinschaft von vier Modemacherinnen, die in einem großen Atelier mit Showroom Kleider für ihre Labels Widda, Rösel & Brunk und Mysuro entwerfen.

Susanne Rottnick, die Macherin von Mysuro, trägt ein Metermaß um den Hals und ist gerade schwer beschäftigt. Dann zeigt sie aber doch sehr gern ein paar ihrer schlichten und gleichzeitig edlen, asymmetrisch gerafften Jerseykleider. Sie erzählt: Wie die meisten hier wohnt auch sie nicht um die Ecke, sondern in Neukölln. Susanne Rottnick arbeitet aber lieber in Wedding, denn hier, sagt sie, „ist es viel zu hässlich“, als dass es je so werden könnte wie dort. „Das soll es auch gar nicht“, ruft sie mit einem hellen Lachen aus. „Neukölln ist furchtbar!“

Rottnick mag die schrullige Mischung der Milieus an diesem Ort. Sie erklärt, warum die Modepioniere die einzigen sind, die von Anfang an dabei waren und blieben. Als vor sieben Jahren die Degewo zum ersten Mal die Wedding Dress veranstaltete, gab es eine Preisausschreibung. Man konnte sich mit Konzepten bewerben, und die besten bekamen einen Laden, für den sie erstmal nur die Betriebskosten zahlten.

Das Problem war nur: Nicht alle können es sich wie die Modepioniere leisten, hier zu arbeiten, aber nichts zu verkaufen. In diesem Teil der Brunnenstraße wird es auch in naher Zukunft kaum Laufkundschaft geben. Und irgendwann musste selbst die Degewo Mieten nehmen. Kreative, die vor Ort Umsatz machen wollten, wurden enttäuscht. Die Fluktuation ist entsprechend groß. Trotzdem rückt immer wieder Neues nach.

Einer dieser Neuzugänge ist das Volta, eine Bar mit Restaurantbetrieb einige Schritte weiter nördlich. Das Volta wurde im Mai eröffnet. Es befindet sich in einem der hautfarbenen Pavillons, zwischen einer Siebdruckwerkstatt und einem Norma. Es beweist mit rohen Betondecken und spartanischer Möblierung, wie man die Architektur der Siebziger zum Leben erwecken kann.

Dass es länger bleiben könnte, dafür spricht außerdem das kulinarisches Mastermind Stephan Hentschel, der seit fünf Jahren Chefkoch im Cookies ist. Es gibt 35 Sitzplätze im Volta und nochmal so viele draußen – und es fühlt sich wirklich neu und witzig an, im Ambiente einer Fußgängerzone zu sitzen und kühles Eschenbräu zu trinken, ein bisher unentdecktes Bier aus einer kleinen Weddinger Hausbrauerei.

Klemens Mühlbauer, einer der drei Betreiber, wirkt erst sehr schüchtern. Dann kommt er doch ins Plaudern. Seit mehr als vier Jahren wohnt er direkt gegenüber vom Volta und beobachtet die Entwicklung. Damals war alles noch viel rauer. Alle hatten das Gefühl, dass es in ihrem Kiez nicht voran geht, sagt er. Das Brunnenviertel war ein weißer Fleck auf der Landkarte.

Dann zog der Immobilienmarkt an, es kamen mehr junge Leute und Familien her, die sich die Mieten in Mitte und Prenzlauer Berg nicht mehr leisten können. Hinzu kam das Engagement der Degewo. Mühlbauer findet es gut, was die Hausbesitzer machen, aber auch verbesserungswürdig. „Inzwischen wollen sie mehr als 8,50 Euro für den Quadratmeter“, sagt er – das ist im Berliner Vergleich nicht viel, für diese Gegend aber auch nicht wenig. Man müsste wahrscheinlich geduldiger sein, meint er.

„Außerdem gibt es hier keinen guten Bäcker, keine Buchhandlung und keinen Fahrradladen“, fällt ihm da ein junger Mann mit Lockenkopf und Superman-Shirt am Tisch nebenan ins Wort. Er wohnt ebenfalls seit vier Jahren hier. Gerade kommt sein Essen, ein „Lollipop“ aus Entrecôte und Zitronengras, mit Papayasalat und Hoisin-Sauce. Kostenpunkt: gerade mal fünf Euro. Es sieht köstlich aus.

„Ich mag es hier“, sagt der Lockenkopf. „Die Anbindung ist gut, neuerdings kann man sogar gut essen“. Aber die Dinge des Alltags, die man braucht, um hier gut zu leben, die muss man immer noch woanders erledigen.

Der Lockenkopf bestellt sein zweites Bier. Und während er sich wieder seiner schönen Freundin mit dem dicken Lidstrich zuwendet, da flaniert am Volta eine Frau in Leggins mit Leopardenmuster und mit einer großen und einer kleinen Tochter vorbei. Die drei schauen mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier nach den Leuten, die vor der Bar sitzen – und man fühlt sich plötzlich wie im Zoo, bei dem man nur nicht so recht weiß, wer hier die Rolle der Gaffer und wer die der Begafften spielt.

Die Frau mit den beiden Mädchen macht Halt. Das eine Mädchen will nicht wie das andere, es gibt eine schallende Ohrfeige. Die Mutter mischt sich ein, es fällt eine zweite schallende Ohrfeige. Und da ist es wieder, dieses Gefühl, dass an dieser seltsamen Stelle in Berlin zwei sehr konträre Welten zusammen stoßen. Und dass hier noch lange Zeit ein großes Stück ganz normales Mittelmaß fehlen wird.

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