Vor den Wahlen in Schweden: Abgeklemmte Nabelschnur

Sollefteå, eine Stadt in Nordschweden, schrumpft. Deshalb sollen Schwangere 180 Kilometer entfernt entbinden. Seitdem ist die Klinik besetzt.

Ältere Menschen in einem Raum mit Protestplakat

Sie wollen nicht abgehängt werden: Die Besetzer von Sollefteå Foto: Bloomberg

SOLLEFTEå taz | Erst am vergangenen Montag ist es wieder passiert. „Es war wie in einem Horrorfilm“, berichtet Fadima Sekersöz. Die 43-Jährige wollte ihre Kusine zur Geburtsklinik nach Sundsvall fahren: „Unterwegs bekam Günay große Schmerzen. Ich hielt auf dem Parkplatz eines Hamburger-Restaurants an. Sie schrie um Hilfe, blutete, hatte große Schmerzen. Das Fruchtwasser war abgegangen. Am Telefon gab die Hebamme mir Anweisungen, fragte, ob der Kopf schon zu sehen sei. Ich hatte Panik. Von der Restaurant-Terrasse starrten zwei Männer zu uns herüber.“ Kurze Zeit später wurde Günay Sagirs Tochter geboren.

Dramatische Geburten auf einem Parkplatz an einer vielbefahrenen Europastraße, auf einem Kiesweg mitten im Wald, am Straßenrand, bisweilen bei Schneefall und Minustemperaturen: Das sind die Konsequenzen der Schließung einer Geburtsklinik, mit der die BewohnerInnen im nordschwedischen Sollefteå leben müssen. Doch viele Menschen weigern sich, das einfach hinzunehmen. Sie haben ihre Klinik besetzt. Mehr als eineinhalb Jahre dauert diese Protest­aktion nun schon an. Die Besetzer wollen weitermachen, bis sie wieder ein komplettes Krankenhaus bekommen. Der Ausgang der Parlamentswahl am kommenden Sonntag könnte dafür entscheidend sein.

Am 9. September werden der Reichstag in Stockholm und die regionalen und kommunalen Parlamente gewählt. Nach den letzten Umfragen sind Gesundheitsversorgung und Pflege die Themen, die den SchwedInnen bei ihrer Wahlentscheidung am wichtigsten sind.

Ein Freitagnachmittag im August: Im Foyer des Krankenhauses von Sollefteå sitzen sieben Frauen und ein Mann in einem Halbkreis aus Bänken und Stühlen. Es sind Barbro, Karin und Birgitta, Maj-Britt, Annika, Kerstin, Christina und Kurt. Alle sind sie im Rentenalter. Einige tragen blaue oder rosa T-Shirts mit einem Storch auf der Brust. Andere haben knallgelbe Warnwesten an, auf deren Rücken „Ich unterstütze das Krankenhaus von Sollefteå“ oder „BBockupationen“ steht. BB, die Abkürzung für „barnbördshus“, hat sich als Bezeichnung für die Entbindungsstationen von Krankenhäusern eingebürgert.

Eine Kleinstadt, doppelt so groß wie das Saarland

Sollefteå liegt rund 500 Kilometer nördlich von Stockholm im Herzen von Ångermanland und unweit von „Höga Kusten“, dem Weltnaturerbe der „Hohen Küste“: Im Zentrum der Kleinstadt haben sich viele der mehr als einhundert Jahre alten schönen Holzhäuser erhalten, die in den meisten anderen schwedischen Städten dem Abrisswahn der 1960er und 1970er Jahre zum ­Opfer gefallen sind. Nur rund 20.000 Menschen leben in der ganzen Gemeinde Sollefteå – aber auf ­einer Fläche, die etwa doppelt so groß wie das ganze Saarland ist.

Das Krankenhaus liegt am Stadtrand, ein 1961 gebauter Betonkomplex. Damals war Sollefteå noch Garnisonsstadt. Vor 18 Jahren zogen die Soldaten ab. „Was natürlich auch Einfluss hatte auf unser Entbindungsstation“, beginnt Barbro über den Hintergrund der ganzen Besetzungsaktion zu informieren. Die lebhafte Frau mit kurzen blonden Haaren und gelber Warnweste hat hier selbst einmal gearbeitet. Damals, vor rund zehn Jahren, seien hier weniger als 500 Kinder jährlich geboren worden. Zu wenig, um eine eigene Geburtsstation zu betreiben, meinte die Politik, die zudem ausrechnen ließ, dass man mit einer Schließung umgerechnet 1,5 Millionen Euro jährlich einsparen könnte. Also wurde geschlossen.

Das hatte einschneidende Folgen. In Nordschweden sind Kliniken sowieso schon dünn gesät. Für Schwangere bedeutet das, dass die nächsten Entbindungsstationen in Sundsvall und Örn­sköldsvik liegen. Diese Städte liegen 120 bis 180 Kilometer von Sollefteå entfernt: Das bedeutet bis zu dreistündige Autofahrten auf oft schmalen und kurvenreichen Straßen, die im Winter auch noch gefährlich glatt werden können, in Gegenden teilweise ohne Mobilfunkempfang. Für Günay Sagir bedeutete dies in der vergangenen Woche statt einer halbstündigen Fahrt in die Klinik von Sollefteå eine eineinhalbstündige nach Sundsvall.

„Wir haben natürlich von Anfang an protestiert. Unterschriftensammlungen, Ärzteproteste, drei große Demonstrationen mit jeweils über 10.000 Menschen“, zählt Barbro auf. Doch nichts habe geholfen. Zum 1. Februar 2017 machte die Geburtsklinik dicht. In der Nacht zuvor war hier das letzte Baby zur Welt gekommen. Am Abend versammelten sich auf dem Parkplatz mehrere hundert Menschen zu einer Kundgebung. Ein Teil demonstrierte anschließend in der Eingangshalle weiter, weigerte sich zum Ende der Öffnungszeit, diese zu verlassen, und erklärte das Krankenhaus für besetzt. „So hat alles angefangen“, erzählt Barbro: „Und dann haben wir einfach weitergemacht.“ Der seitherige Dauerprotest, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, geht gerade in den zwanzigsten Monat.

Das Engagement ist nach wie vor ungebrochen, zumal sich die Befürchtungen über die Folgen der Schließung schnell bestätigen sollten. Immer wieder kommt es zu „bilfödsel“, „Autogeburten“. Günay Sagir war bisher die letzte Schwangere, die es nicht mehr in eine Geburtsstation schaffte.

Emma Andersson

„Bis endlich die Ambulanz eintraf, stand ich da ohne Hosen und Schuhe mit der Nabelschnur zwischen den Beinen und dem Neugeborenen an der Brust bei Minusgraden im Schnee“

Emma Andersson aus einem Dorf nahe Sollefteå traf es schon zwei Wochen nach der Schließung. In ihrem Facebook-Account nennt sie ihre Erlebnisse einen „Albtraum“: Ihre Tochter kam im Auto auf der Fahrt zur Geburtsstation von Örn­sköldsvik zur Welt. Als die herbeitelefonierte Ambulanz endlich verspätet eintraf, „stand ich da ohne Hosen und Schuhe mit der Nabelschnur zwischen den Beinen und dem Neugeborenem an der Brust bei Minusgraden im Schnee“.

Der Arbeiterbildungsverein von Sollefteå bot Kurse an, wie man sich verhalten soll, wenn die Geburt auf dem Weg zur Klinik einsetzt: Wegen der Kälte Türen und Fenster schließen, Sitze nach hinten schieben und die Rückenlehne kippen, dem Neugeborenen nicht die Nabelschnur durchschneiden, sondern nach der Geburt gleich zu Klinik weiterfahren.

Fahrten zu einer Geburtsklinik, die mehr als 40 Minuten dauern, seien eigentlich nicht zu verantworten, konstatiert eine finnische Studie, in der dortigen Erfahrungen ausgewertet wurden. Für das Baby bestehe bei einer Spontangeburt außerhalb eines Krankenhauses ein sechsfach höheres Todesrisiko.

Auch Chirurgie und Orthopädie mussten dichtmachen

In Sollefteå mutet man Schwangeren nun noch weit längere Reisen zu. Und nicht nur denen. Denn nach dem Ende der Entbindungsabteilung beschloss die Politik auch noch das Aus der Abteilungen für akute Chirurgie und akute Orthopädie. „Natürlich ist akute Krankenversorgung teuer“, warnte Helena Toss, Ärztin für Intensivmedizin am Sollefteå-Krankenhaus, schon damals: „Aber Politiker, die da sparen, sollten dann auch den Mut haben, über die Konsequenzen zu reden, die ihr Rotstift bedeutet.“ Menschenleben eben.

„Ja, es hat schon Tote gegeben“, schaltet sich jetzt Maj-Britt in das Gespräch mit den Besetzern ein. Für einige ältere krebskranke Menschen sei es viel zu anstrengend gewesen, für die Behandlungen dreimal in der Woche jedes Mal vier Stunden oder länger nach Sundsvall und zurück transportiert zu werden: „Sie weigerten sich, diese Tortur noch länger mitzumachen. Und wir alle müssen ja damit rechnen, selbst einmal in so eine Lage zu kommen.“ – „Verstehst du jetzt, warum ein funktionierendes Krankenhaus hier für uns so wichtig ist“, fragt Maj-Britt: „Wir können uns die jetzige Situation ganz einfach nicht gefallen lassen. Wir sind doch nicht Bürger zweiter Klasse.“

Mindestens einmal in der Woche fährt die 74-Jährige von ihrem Dorf die 35 Kilometer nach Sollefteå und beteiligt sich 24 Stunden lang an der Protestaktion. Seit frühmorgens um sieben Uhr ist sie heute hier: „Und ich bleibe bis morgen früh um sieben. Aber ich bin auch überzeugt“, sagt die Revisorin, die nach der Pensionierung von Stockholm hierhergezogen ist, um ihren Kindern näher zu sein, „dass das hier das Wichtigste ist, was ich bislang in meinem Leben gemacht habe.“ – „Da drüben lege ich dann nachts meine Matratze hin“, deutet Maj-Britt zu einem Treppenaufgang hinüber: „Doch, doch, das funktioniert. Ich kann da sogar besser schlafen als zu Hause.“ Die Matratzen hat ein einheimisches Möbelhaus gespendet.

Die Organisation der Besetzung hat sich eingespielt, berichtet Barbro. Wer sich zu einer der vier täglichen Schichten anmeldet, wird in eine Liste eingetragen. Etwaige Lücken werden über Facebook-Aufrufe angezeigt und gefüllt. „Bertil kümmert sich um die Zahlen“, sagt Barbo und blättert in einem Ordner. 2.772 verschiedene BesetzerInnen zählt die von Bertil, einem pensionierten Zahnarzt, akribisch geführte Statistik. Die älteste ist 94 Jahre alt.

Der durchschnittliche Besetzer hat bislang dreimal teilgenommen, 20 sogar mehr als fünfzig-, 4 mehr als hundertmal. Kurt ist so ein „Veteran“: „Ich habe heute Nachmittag meine 72. Schicht.“ – „Wichtig war für uns, dass hier immer alles friedlich bleibt“, betont er: „Die Besetzung war von Anfang an symbolisch gemeint. Es ging nie darum, etwas zu blockieren. Wir ziehen mit den Krankenhausangestellten ja auch an einem Strang. Und es ging uns auch nie um Parteipolitik.“

Bei den Regionalwahlen droht ein Denkzettel für Rot-Grün

Die Träger der öffentlichen Krankenhäuser sind in Schweden die Regionen. Im Parlament der Region Västernorrland hatten die dort regierenden Sozialdemokraten und die Grünen für den Abbau der Gesundheitsvorsorge in Sollefteå votiert. Das wird, so viel ist sicher, ihnen bei der anstehenden Wahl dramatisch Stimmen kosten. Nach der letzten Umfrage könnten die Sozialdemokraten in der Region von 48 auf 30 Prozent abrutschen. Die Partei ist heillos zerstritten und hat viele Mitglieder verloren. Bei die Wahl 2014 war sie nämlich mit dem ausdrücklichen Versprechen losgezogen, das Krankenhaus in Sollefteå mit einem vollwertigem Versorgungsangebot zu erhalten.

Von „Täuschung und Betrug“ spricht John Åberg, Vorsitzender des sozialdemokratischen Ortsverbands: „Wir haben eigentlich nie eine wirkliche Antwort bekommen, warum man das gemacht hat.“ Und bislang gebe es auch keine Zahlen, ob mit der Umorganisation auch nur eine einzige Krone eingespart worden sei.

Auf Schwedens sozialdemokratischen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Stefan Löfven ist man in Sollefteå gar nicht gut zu sprechen. Er ist in einem Dorf 20 Autominuten von der Stadt entfernt aufgewachsen und hier zur Schule gegangen. Eigentlich ist dieses Krankenhaus „sein“ Krankenhaus. Er steht auch als erster Name auf der sozialdemokratischen Reichstagsliste für Västernorrland. „Wir wissen, dass er mindestens einmal im Monat seine 88-jährige Mutter besucht, die hier lebt“, berichtet Barbro: „Warum kommt er dann nicht mal vorbei und redet mit uns?“ Andere Parteivorsitzende waren schon mehrfach bei den BesetzerInnen. Doch auf seiner aktuellen Wahlkampftournee im August besuchte Löfven zwar mehrere Orte in Västernorrland, vermied aber einen Auftritt in Sollefteå.

Dabei ist gerade das Ådalen, der Unterlauf des Ångermanälven, an dessen Südufer Sollefteå liegt, für die Sozialdemokratie von großer historischer Bedeutung. „Ådalen 31“ ging in die schwedischen Geschichtsbücher als ein Ereignis ein, das das Land verändert hat. Im Mai 1931 protestierten hier Arbeiter der Papierindustrie gegen Lohnsenkungen und Streikbrecher. Die Regierung erteilte dem Militär einen Schießbefehl. Fünf Arbeiter wurden getötet. Die Krise und die Demonstrationen ­gegen die „Mörderregierung“, die diesen Schüssen ­folgten, brachten ein Jahr später in Stockholm die Sozialdemokraten an die Macht. Es war der Beginn einer ununterbrochen bis 1976 dauernden Regierungsperiode. Und es war der Beginn jener vier Jahrzehnte, in denen die Basis für das gelegt wurde, was dann als „schwedisches Modell des Wohlfahrtsstaats“ international bekannt wurde.

Der zunächst lokale und regionale Widerstand entwickelte sich schnell zu einer landesweiten Angelegenheit

Nicht zufällig haben die Besetzer ihrer Protestaktion deshalb den Namen „Ådalen 2017“ gegeben. Wird auch das rückblickend einmal als ein Wendepunkt gelten? Deutlich ist jedenfalls schon geworden, dass die bisherige politische Mehrheit, die die Schließung durchsetzte, die Ausdauer und die Kraft der Proteste und die Rolle der sozialen Medien bei deren Mobilisierung völlig unterschätzte. Der zunächst lokale und regionale Widerstand entwickelte sich schnell zu einer landesweiten Angelegenheit. Sie wurde zum Symbol des Kampfs gegen den Abbau des schwedischen Sozial­staats und gegen die immer breiter werdende Kluft zwischen den Großstädten und dem flachen Land, dem Süden und dem Norden des Landes.

In Sollefteås lappländischer Nachbargemeinde Dorotea haben die EinwohnerInnen vorgemacht, wie ein langer Atem zum Erfolg führen kann. Drei Jahre und drei Monate hielten sie seit Anfang 2012 eine aus Rationalisierungsgründen geschlossene Krankenstation besetzt, genau 1.196 Tage lang. Dann zeigten die PolitikerInnen Einsicht. Die Station wurde wiedereröffnet. „Dorotea-Upproret“, der „Aufruhr von Dorotea“, gilt als bislang längste Besetzungsaktion in Schweden.

Eigentlich gäbe es also noch einen Rekord zu brechen? „Ach das muss wirklich nicht sein“, lacht Barbro. In ihrem Optimismus ist sie sich mit der ganzen Runde einig: „Die Politiker halten das nicht mehr lange durch. Nächstes Jahr bekommen wir ein komplettes Krankenhaus zurück.“

Für Fadima Sekersöz ist das zu spät. Sie ist im neunten Monat. Und sie hat Angst, dass ihr Ähnliches wie ihrer Kusine Günay passieren könnte. Ihr Mann hat im Auto schon mal eine Notaus­rüstung gepackt: „Aber ich fühle mich so schwach und ängstlich. Ich bereue sogar, schwanger zu sein“, sagt Sekersöz.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.