Völkerrechtler über Sparauflagen: „Das ist Hartz IV für Europa“

Die Sparauflagen für EU-Mitglieder wie Griechenland verschlimmern die Lage. Und sie seien rechtswidrig, sagt Völkerrechtler Fischer-Lescano.

Selbst in Not geraten: Krankenhaus in Athen. Bild: reuters

taz: Herr Fischer-Lescano, Sie werfen der EU vor, mit ihrer Krisenpolitik ihre Kompetenzen zu überschreiten und Menschenrechte zu verletzen. Weshalb?

Andreas Fischer-Lescano: Die „Memoranden of Understanding‘, die Vereinbarungen über die Kreditauflagen, greifen in eine ganze Reihe von Grund- und Menschenrechten ein.

Welche?

Gesundheitsrechte etwa, wenn ganz konkrete Zuzahlungserhöhungen für Medikamente verlangt werden, oder das Recht auf Bildung. Vor allem aber ist der Bereich Arbeit und soziale Sicherheit betroffen: Sanktionen gegen Arbeitssuchende werden eingeführt, soziale Sicherungssysteme fallen weg. Das ist, um es zuzuspitzen, Hartz IV für Europa. Dies verletzt die Tarifautonomie, das Recht auf Berufsfreiheit und auf faire Entlohnung.

Das mag einem nicht gefallen, aber warum sollten politische Institutionen das nicht so entscheiden dürfen?

Diese Eingriffe verstoßen unter anderem gegen die Europäische Grundrechtecharta, den UN-Sozialpakt oder die Europäische Menschenrechtskonvention. Die europäischen Organe, also die Kommission und die Zentralbank, sind an diese Normen gebunden – auch und gerade in der Finanzkrise. Durch die Krise ist das Unionsrecht nicht etwa suspendiert. Die Memoranden sind als Verträge zu Lasten Dritter evident rechtswidrig.

41, ist Direktor des Bremer Zentrums für Europäische Rechtspolitik. Der Professor für Völkerrecht wurde 2011 bekannt, weil er dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) als Erster Plagiate in seiner Doktorarbeit nachwies. Für den Europäischen Gewerkschaftsbund hat er die Sparpolitik der EU untersucht. Das Gutachten wird im Januar in Brüssel vorgestellt.

Das bedeutet, ein griechischer Krebspatient, der seine Medikamente nicht mehr bezahlen kann, könnte gegen die Kreditauflagen klagen?

Unter bestimmten Umständen: Ja. Es gibt ja bereits Klagen, aber sie richten sich meist direkt gegen die nationalen Umsetzungsakte, also etwa die griechische Regierung. Bislang werden die Handlungen der EU-Organe selbst nicht deutlich genug problematisiert. Dabei werden auf Unionsebene die menschenrechtswidrigen Weichen gestellt.

Sie empfehlen also Klagen beim Europäischen Gerichtshof gegen die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank?

Griechenland hat am 1. Januar turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft von Litauen für das erste Halbjahr 2014 übernommen. Athen führt nun die Geschäfte der EU, während es zugleich mit einer schweren Finanzkrise kämpft. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 27 Prozent. Die Griechen müssen Sparauflagen der EU erfüllen, die nach Ansicht des Völkerrechtlers Andreas Fischer-Lescano die Lage nicht nur verschlimmern, sondern auch noch rechtswidrig zustande gekommen sind. Das geplante Budget für den griechischen Vorsitz ist mit rund 50 Millionen Euro das kleinste, seit es eine EU-Präsidentschaft gibt. (dpa/taz)

Die Kreditauflagen sind von der Kommission und der EZB ausgehandelt worden. Deswegen muss gegen sie vorgegangen werden können. In der Vergangenheit hat sich der Europäische Gerichtshof in solchen Fragen leider nicht gerade zum Anwalt der Entrechteten gemacht. Die jüngsten Entscheidungen, etwa zur Vorratsdatenspeicherung, geben allerdings Hoffnung, dass er in Zukunft eine aktivere Rolle einnimmt. Sinnvoll wäre es, auch andere gerichtliche Foren, vom Europäischen Sozialausschuss bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, intensiver einzuschalten als bislang.

Vor dem EuGH gab es schon eine Klage griechischer Beamter.

Die wollten die Streichung ihres 13. Monatsgehaltes für nichtig erklären lassen. Genau das aber steht im betreffenden Memorandum so nicht explizit drin. Die griechische Regierung hatte da in der Umsetzung der Auflage Spielräume. Deswegen lehnte der EuGH eine Entscheidung ab. Es kommt jetzt darauf an, Fälle zu finden, in denen die negative Betroffenheit durch die Memoranden selbst evident ist.

Was für Fälle könnten das sein?

Beispielsweise verpflichtet das Memorandum mit Irland zur Absenkung des Mindestlohnes um einen Euro, das Memorandum mit Griechenland nennt konkrete Summen bei der Medikamentenzuzahlung. Solche Klauseln könnte man vor dem EuGH angreifen.

Sie kritisieren auch, dass die Kommission die Kreditverträge ausgehandelt hat. Warum hätte sie das nicht tun dürfen?

Wir haben es hier mit einer sogenannten Organleihe zu tun: Die Kommission verhandelt im Auftrag des Europäischen Stabilitätsmachanismus. Grundsätzlich ist so etwas möglich. Die Kompetenzen des entliehenen Organs dürfen aber nicht verfälscht oder erweitert werden. Genau das ist aber passiert. Die Kommission hat in vielen Sachbereichen der Memoranden, etwa der Tarifautonomie oder der Lohnhöhe, gar keine Kompetenz.

Ist das im Nachhinein nicht herzlich egal? Ohne den Umweg über die Kommission hätte die Eurogruppe mit Griechenland doch genau denselben Vertrag geschlossen.

Das ist keineswegs egal. Die Einhaltung der prozeduralen Vorschriften des Unionsrechts würde die Verhandlungen aus den Hinterzimmern herausholen. Sozialpartner und Europaparlament säßen mit am Tisch. In einer öffentlichen Debatte über die Bedingungen hätte man auch diskutieren können, ob die Einschnitte in die sozialen Grundrechte verhältnismäßig sind.

Wie sähen denn verhältnismäßige Einschnitte aus?

Die sozialen Menschenrechte sind nicht unantastbar und jeder politischen Einflussnahme enthoben. Aber es gibt Vorschriften für Einsparungen, die beachtet werden müssen: Dazu gehört etwa das Diskriminierungsverbot, nach dem schwächere Gruppen nicht benachteiligt werden dürfen. Doch gerade in ihrer Kombination bringen viele Sparauflagen Kinder, Rentner, Behinderte, Migranten in existenzbedrohende Situationen. Außerdem gilt das Verschlechterungsverbot: Wenn die EU-Organe Einschnitte in soziale Menschenrechte vornehmen, müssen sie die relevanten Gruppen in den Rechtssetzungsprozess einbeziehen. Im Fall der Sparauflagen wären das vor allem die Sozialpartner und das Europäische Parlament. Beides ist nicht hinreichend erfolgt. Schließlich missachten die Sparauflagen auch das Gebot, jeweils das mildeste Mittel zu wählen, also grundrechtsschonende Alternativen zu prüfen.

Und wie ließe sich denn mit milderen Mitteln der griechischen Staatshaushaltes stabilisieren?

Denkbar wären da eine vorrangige Kürzung der Militärhaushalte, eine stärkere Neuverschuldung oder eine Erhöhung der Defizitgrenzen. Man könnte auf der Einlagensicherungsseite viel tun, Vermögen stärker besteuern. Vieles in dieser sogenannten Sparpolitik hat im Übrigen mit Sparen nichts zu tun. Der Staat spart nichts durch die Einschnitte in die Tarifautonomie. Am Ende zahlt er drauf.

Das alles erinnert an die Strukturanpassungsprogramme, mit denen der Internationale Währungsfonds und die Weltbank in den 1980er Jahren politische Reformen in verschuldeten Staaten erzwungen haben.

Die Parallelen sind offenkundig. Die Konditionalisierungspolitik von IWF und Weltbank hat seit Jahrzehnten ganze Kontinente durch die neoliberale Doktrin verwüstet. Heute erleben wir das Entstehen von Massenarmut in Europa. Die Regulierungstechnik ist die gleiche: Auch die Kredite an Lateinamerika liefen über „Memoranden of Understanding“. So werden diese Einschnitte demokratischer Kontrolle entzogen.

Warum?

Die Memoranden sind eine Kategorie jenseits des völkerrechtlichen Vertrages, aus dem Beteiligungsrechte der Parlamente erwachsen …

Aber das griechische Parlament hat den Kreditauflagen zugestimmt.

Das Parlament hatte keine Wahl. Das einzige Parlament, das den supra- und internationalen Organisationen auf Augenhöhe entgegentreten könnte, war nicht ansatzweise beteiligt. Das ist, wie Jürgen Habermas es zu Recht kritisiert hat, eine „Fassadendemokratie“: Die Institutionen existieren, können ihrer Kontrollfunktion aber nicht nachkommen.

Sie sagen, die Austeritätspolitik sei ökonomisch nicht sinnvoll, um finanzielle Stabilität zu erreichen. Das ist keine sehr juristische Argumentation.

Doch. Der EuGH sagt, die Finanzmaßnahmen müssen geeignet sein, um ein legitimes Ziel zu erreichen. Das legitime Ziel, mit dem nach dem EuGH Eingriffe gerechtfertigt werden können, ist die finanzielle Stabilität. Und finanzielle Stabilität schließt soziale Stabilität ein.

Wie wären denn soziale und finanzielle Stabilität miteinander in Einklang zu bringen?

Selbst der IWF stellt fest, dass die Sparpolitik die strukturellen Probleme noch vertieft. Europas strukturelle Probleme, die unterschiedlichen Außenhandelsbilanzen, die unzureichende Bankenregulierung, die fehlende Koordinierung der Steuern, werden durch die Sparpolitik nicht gelöst, sondern verstärkt. Eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik müsste auf europäischer Ebene Einnahmensicherungen vorsehen, durch Vermögensteuer und Finanztransaktionsteuer. Sie müsste zur Beachtung sozialer Mindeststandards verpflichten und den Niedrigsteuerwettbewerb unterbinden. Von diesen Notwendigkeiten wird jedoch aktiv abgelenkt.

Wodurch?

Es geht ja nicht darum, wie man uns weismachen will, dass die Siesta der Griechen länger dauert als die der Deutschen. Die Menschen in Deutschland und Griechenland begleichen die Rechnung eines außer Kontrolle geratenen Wirtschaftssystems. Erst wenn wir mit der Lüge Schluss machen, die die soziale Frage Europas in zwischenstaatliche Kulturkonflikte umdeutet, können wir die nötigen Strukturveränderungen in Gang bringen.

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