Verlorene Jugend in Italien: „Ich fühle mich verraten“

Ein 30-Jähriger nimmt sich in Italien das Leben, sein Abschiedsbrief wird öffentlich. Aus einer privaten Tragödie wird die eines Landes.

Kinder und eine Frau schauen an einer Steilküste herunter

Jung in Italien: Da geht der Blick gerne abwärts Foto: Imago / Frank Sorge

ROM taz | Ein 30-Jähriger, der sich das Leben nimmt: Eigentlich wäre das keine Nachricht für Italiens überregionale Zeitungen oder die TV-Nachrichtensendungen. Doch Michele rüttelte mit seiner Tat das ganze Land wach, denn statt eines Abschiedsbriefs hinterließ er eine wütende, verbitterte, verzweifelte Abrechnung – eine Abrechnung, in der sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen junger Italiener wiederfinden.

„Ich habe 30 Jahre (schlecht) gelebt“, beginnt das Schreiben, das seine Mutter nach Micheles Tod dem kleinen Regionalblatt Messaggero Veneto zur Veröffentlichung gegeben hatte. „Ich habe es satt, mich anzustrengen, ohne Resultate zu erreichen, ich habe die nutzlosen Vorstellungsgespräche als Grafiker satt, ich habe es satt, den Erwartungen aller zu genügen, ohne je meine Erwartungen erfüllt zu sehen, satt, gute Miene zu einem miserablen Spiel zu machen.“

Nie hatte Michele, der im nordostitalienischen Friaul lebte, nach seiner Ausbildung zum Grafiker eine feste Beschäftigung gefunden. Ihm ging es wie so vielen seiner Generation: etwa 800.000 junge Arbeitslose zählt die Statistik, über 40 Prozent beträgt der Anteil derer, die keinen Job haben. Und wer in Arbeit ist, muss sich oft genug mit miserabel bezahlten Honorarverträgen ohne Festanstellung durchschlagen.

Michele empfand diese Situation als hoffnungslos. „Ich kann mein Leben nicht damit verbringen, bloß um mein Überleben zu kämpfen“, schreibt er, „die Zukunft wird ein Desaster sein, dem ich nicht beiwohnen, an dem ich auch nicht teilhaben möchte“.

Und Michele setzt nach: „Ich habe nicht verraten, ich fühle mich verraten, von einer Epoche, die es sich erlaubt, mich beiseitezustellen.“

Die Hoffnung ist verpufft

Eine Generation, der ihre Zukunft geraubt wurde – so fühlen sich zahllose junge Italienerinnen und Italiener, die ohne jedes Einkommen oder bloß mit Minimalverdiensten leben, die notgedrungen auch mit 30 oder 35 Jahren noch bei ihren Eltern wohnen, die nur von der Familie durchgezogen werden.

Gerade ihnen hatte der jung-dynamische Matteo Renzi die Wende versprochen, als er vor genau drei Jahren, im Februar 2014, die Regierung übernahm. Renzi gab sich als Sprecher ihrer Generation, als einer, der – bei der Politik angefangen – endlich die „Alten“ ins Abseits stellen, den Jungen die Tore öffnen wollte. Und bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 dankten es ihm gerade auch die Jungwähler mit massivem Zuspruch.

Doch die Hoffnung ist verpufft. Zwar hat Italien wieder ein – wenn auch sehr bescheidenes – Wachstum vorzuweisen. Zwar geriet auch der Arbeitsmarkt in Bewegung. Doch neue Jobs entstanden vor allem für die über 50-Jährigen, die Jugendlichen dagegen gingen leer aus. Auf die Regierung kommt Michele ganz am Ende seines Briefs zu sprechen: „P.S., Komplimente an Minister Poletti. Er ist einer, der uns als Arschlöchern gebührenden Wert zubilligt.“

Abwanderung Zehntausender meist junger Menschen

Giuliano Poletti, Arbeitsminister im Kabinett des im Dezember 2016 zurückgetretenen Regierungschefs Renzi, behielt seinen Job auch in der neuen Regierung unter Paolo Gentiloni. Ausgerechnet Poletti hatte im Dezember letzten Jahres die Abwanderung Zehntausender meist junger Menschen – allein im Jahr 2015 verließen 107.000 Italiener ihr Heimatland – mit der herablassenden Bemerkung kommentiert, bei einigen dieser Auswanderer sei es „besser, dass sie uns nicht mehr hier auf die Nerven gehen“.

Dabei kann der Arbeitsminister auf der Habenseite verbuchen, dass er wenigstens einem jungen Mann zu einem festen Job verholfen hat: dem eigenen Sohn. Den Filius hatte der Minister, früher Präsident des Zentralverbands der Genossenschaften Legacoop, bei einer Genossenschaftszeitung als Chefredakteur untergebracht.

So viel Glück hatte Michele nicht, ihm blieb nur festzuhalten: „Diese Generation rächt sich für einen Diebstahl, den Diebstahl des Glücks“, bevor er seinem Leben ein Ende machte.

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