Unterwegs in Braunschweig: Den Verkehr laufen lassen

Carsharing, Fahrradwegausbau, kostenloser Nahverkehr – in Braunschweig diskutierte taz.meinland über Zukunftswege für die Stadtmobilität.

Fahrradständer statt Parkplätze – das und noch mehr forderte das Publikum in Braunschweig Bild: AP

von LION HÄBLER

„Zumindest die Ortskerne müssten doch zum Null-Tarif allen zugänglich sein, oder?“ Es waren 20 Minuten vorsichtigen Vorstellens vergangen bis Moderator Jan Feddersen selbst den Elefanten im Raum anstupste und damit zum Tanzen brachte. Das Eis war gebrochen und die lauschende Menge unterstrich mit ihrem Applaus diesen fordernden Vorstoß. 

Braunschweig liegt mit seinen 250.000 Einwohner*innen inmitten anderer niedersächsischer Städte wie Wolfsburg, Salzgitter, Wolfenbüttel und Peine, in denen ebenfalls Fabriken der Automobilindustrie angesiedelt sind. taz.meinland wurde von Genossenschaftsmitgliedern eingeladen, sich dem Thema Mobilität anzunehmen.

Die rund 110 Personen im dritten Stock des Kulturzentrums Brunsviga sind sozial eher im liberalen bis grün-alternativen Milieu einer erfolgreichen Mittelschicht verortbar. Die Probleme schwanken zwischen fehlenden Fahrradstellplätzen, der schwierigen Benutzung von modernen Internetapps, der Frage, weshalb Autofahren eigentlich billiger ist als die Nutzung des umweltverträglicheren Öffentlichen Personennahverkehrs und anderen Themen.

Große Runde, runde Sache

Auch am Runden Tisch sitzen verschiedene Personen, die sich allerdings in vielem einig sind. Dabei haben sie alle verschiedene Hintergründe und versuchen jeweils von dort aus das Thema Beweglichkeit fassbar zu machen.

„Braunschweig ist eben eine Autostadt, wir müssen um den Platz streiten!“  – ein Zuhörer im Publikum

 

Thomas Krause vom Think-Tank „ITS automotive nord e.V.“ zeigt sich als Vertreter und Vermittler zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.Juliane Krause (nicht verwandt oder verschwägert mit Vorhergehendem) ist Grünen-Politikerin und will das Fahrrad-Image der Stadt aufpolieren. Ihr zur Seite sitzen Armin Maus von der Braunschweiger Zeitung und Katrin Kaminski, welche mit dem ADFC ein Fahrrad-Pendant zum ADAC vertritt.

Auch Fritz Rössig vom Regionalverband Großraum Braunschweig hat die Anschlussfähigkeit an die Wirtschaft genauso im Blick wie den grundsätzlichen Willen, mit dem öffentlichen Personennahverkehr umweltverträgliche Fahrtmöglichkeiten anzubieten. Die Soziologin Amrit Bruns sieht das Fahrrad als Bindeglied zwischen Zuhause, Bus- und Bahnfahrten und hat eine Vermittlerposition zwischen BürgerInnen und Wirtschaft inne.

Ein Gratis-Ticket kann ja nie ganz umsonst sein

taz.meinland-Leiter Jan Feddersen lenkt die Aufmerksamkeit auf urbane Freifahr-Modelle von Kiew bis Portland. In vielen Metropolen weltweit sei das mobile Erschließen des innerstädtische Treibens für alle kostenfrei zugänglich. Das sei nicht nur als Innovationsschub für die technische Ausstattung öffentlicher Verkehrsmittel ein Vorteil, sondern auch wichtig, um der Autonutzung das Geldspar-Argument zu nehmen.

Aus Wirtschaft und ÖPNV-Richtung kommt der Gegenhinweis: nichts sei im Leben umsonst zu bekommen. Leistungen stünden immer im Austausch, selbst bei kostenfreiem Verkehr würde mit den Daten der Nutzer*innen gehandelt. Damit nimmt Thomas Krause vom ITS (was er englisch ausspricht, aber mit „Intelligente Transport-Systeme“ direkt ins Deutsche übersetzt) eine Skepsis vorweg, die mit seinen Zukunftsvisionen verbunden sein könnte: Wenn die Fahrzeuge „miteinander sprechen“ würden, wie er es für „spätestens in 20 Jahren“ skizziert, dann wäre das Auflösen des strengen Datenschutzes der Preis dafür.

Einer Zuschauerin machen da viel basalere Fragen der Digitalisierung sorgen: „Meine Mutter ist über 70 Jahre alt, und die wäre mit der Nutzung von so einer Handy-App ja total überfordert. Dabei müssten doch gerade diese alten Menschen, die nicht mehr Radfahren können, die Zielgruppe für Bus und Straßenbahn sein“.

Ein Mann mit französischem Akzent rechnet vor, dass Gratis-Fahrten machbar seien: „In meiner Heimatstadt in Frankreich wurde das umgesetzt. Die Ticketeinnahmen sind sowieso nur zwei Prozent der Gesamtkosten. Bei uns konnten die öffentlichen Verkehrssystem  so ausgelastet werden und auch die Innenstädte wurden dadurch belebter. Menschen fahren seitdem wieder vermehrt zum Einkaufen in die Innenstadt“. Freifahrt als Wirtschaftsmotor, auch bei anderen am Tisch wurde dieses Argument bemüht.

Multi-Modal und das Fahrrad als Zubringer

Einig sind sich alle, wenn es darum geht, in Zukunft noch multi-modaler verkehrstüchtig zu sein. Gemeint ist die Anschlussfähigkeit des Fahrradnutzens. „Zwei Kilometer kann man von Zuhause aus auch radeln zur Bahnstation“, wie Grünen-Politikerin Julian Krause sportlich zum Besten gibt. Noch weitergedacht: „Wir bauen auch eine Fahrrad-Schnell-Straße, auf der 30 km mit Fahrrad oder E-Bike motorunterstützt in 30 bis 45 Minuten zurückgelegt werden können“.

Dieser Vorschlag stößt im Publikum bei vielen auf erstauntes bis höhnisches Gelächter. Ohne Auto oder Zug von Braunschweig in die Nachbarstädte zu kommen, das wollen sich hier wenige wirklich vorstellen. Am Tisch wird von verschiedenen Seiten ähnliches angemerkt und ergänzt: zur verstärkten Fahrradnutzung werden an den Bahnhaltestellen Fahrradkäfige als sichere Anschließmöglichkeiten gebraucht.

Auch ein alltägliches, aber dabei nicht ins verborgene zu schiebendes Thema: der beschwerliche Weg aus dem Fahrradkeller an die Oberfläche der Straße. Zur Erleichterung sollten doch endlich Parkplätze Fahrradständern weichen, wie aus den Zuschauerreihen gefordert wird. Ein etwas lauterer Mann will die Situation noch zugespitzter zeichnen: „Da wird die Wirtschaft sich dagegen wehren wollen. Braunschweig ist eben eine Autostadt, wir müssen um den Platz streiten!“ Die Stimmung wird kämpferischer.

Armin Maus, Chefredakteur der regionalen Braunschweiger Zeitung, erzählt vor allem aus dem persönlichen Erfahrungsschatz: „Meine Kinder sind Teil einer jüngeren Generation, die kommen ohne Auto zurecht“. Nur für Berufstätige ginge das eben nicht mal so schnell, vor allem wenn man freiberuflich tätig sei und demnach auch flexibel sein müsse.

Teilen als gemeinschaftliche Zukunft? 

Auch die Frage, ob Verleihsysteme eine flächendeckende Lösung seien, wird kontrovers diskutiert. Car-Sharing wird kritisch kommentiert, von einem jungen Mann aus dem Publikum in die Nähe von Ausbeutung und Zeitarbeitsverhältnissen gerückt. Außerdem bleibt das Auto auch eine Insel der Individualität, die sich nehmen zu lassen, nicht alle bereit wären. „Diese Freiheiten machen unsere Demokratieform auch aus“, fasst der wirtschaftsliberalere Thomas Krause zusammen.

„Wie viel individuell ausgelebte Freiheit kann und will eine offene Gesellschaft zulassen?“

Andere, wie die Grünenpolitikerin Juliane Krause und auch Fritz Rössig vom Regionalverband, wollen Fahrradverleihsysteme ausbauen, während Katrin Kaminski auf Vereinsinitiativen setzt, wenn sie und ihresgleichen Fahrradtouren zur urbanen Erschließung der Wege anbieten.

Bei all den Teil-Möglichkeiten der Zukunft, die skeptisch bis optimistisch beäugt werden, wird eines deutlich: Individualisierung ist nicht nur Freiheit, sondern auch Gebot der modernen Arbeitsbedingungen. Die Soziologin Amrit Bruns vergleicht den Stadtteil, in dem sich dieser taz.meinland-Abend abspielt, später mit dem Berliner Viertel Prenzlauer Berg.

Und so ist es auch kein Wunder, dass die Fließbandarbeiter und -arbeiterinnen dann auch im Publikum fehlen. Aber die fühlten sich von diesen Problemen sowieso nicht betroffen und von den Fragestellungen nicht angesprochen, gibt Bruns zu. Auch in soziologischen Befragungen wären diese Teile der Gesellschaft schwer zu Aussagen zu bringen. Die verdienten in der hiesigen Autoindustrie ja auch genug, um sich ein eigenes Auto zu leisten.

„Autofahren ist Männersache“

Der soziale Aspekt wird auch aus dem Publikum noch einmal hervorgehoben. Eine zierliche Frau meldet sich und erklärt: „Autofahren ist vor allem Männersache. Wenn eine Stadt das begünstigt, werden Frauen, aber auch jüngere und ältere Menschen, von Mobilität ausgeschlossen."

Die Ambivalenz bleibt wie so oft: Wie viel individuell ausgelebte Freiheit kann und will eine offene Gesellschaft zulassen? Und ab welchem Grad will sie abgefahrenen Egoismus in Schranken weisen und stattdessen das Miteinander zur verpflichtenderen Praxis machen?

So bleiben wir vorerst mit spannenden Zukunftsvisionen stehen, halten inne und sehen, dass noch viel zu tun bleibt. Wir aus Berlin fanden den Weg mit Kleintransporter und im Zug zurück in die Hauptstadt und freuen uns auf zukünftige Einladungen – dann vielleicht schon mit Mitteln, die heute noch unvorstellbar sind.