Ungarn verbietet Gender Studies: Aus Angst um den Mann

Die ungarische Regierung verbietet die Gender Studies – angeblich, weil deren Absolventen nicht gebraucht würden.

Sehr viele Männer und einige Frauen werden als Minister im neuen Kabinett von Ungarn nach der Parlamentswahl im April vereidigt

Der Mann ist im ungarischen Parlament wahrlich eine marginalisierte Gruppe Foto: dpa

BUDAPEST taz | Das hier ist seine Bühne. Es ist Ende Juli, Mitten in Rumänien, und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán lässt sich feiern. Er steht auf einem Podium der Freien Universität in Tusványos, 400 Kilometer hinter der ungarischen Grenze. Tausende sind gekommen, die halbe ungarische Elite ist aus Budapest angereist. Die Regierungspartei Fidesz veranstaltet eine riesige politische Party für sich selbst.

Eine Stunde lang verkündet Orbán von hier oben seine Sicht auf die Welt. Er zeichnet ein Bild von sich als globalem Akteur zwischen Trump und Putin. Und am Ende kommt der Satz, der den Westen provozieren soll: „Wir könnten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Mai nebst den liberalen Demokraten auch die 68er Generation für immer verjagen.“ Orbán lächelt wie ein Pubertierender nach einem gelungenen Streich.

Es dauert keine zwei Wochen, bis er Taten folgen lässt. Mitte August beauftragt er zwei seiner Minister, das Studienfach Gender Studies an den ungarischen Universitäten verbieten zu lassen. Warum, sagt er zunächst nicht.

Die Nachricht platzt mitten in die Sommerferien: Viele Professoren befinden sich im Urlaub, die meisten Studierenden sind entweder auf dem Sziget-Musikfestival oder liegen am Plattensee am Strand. Trotzdem verbreitet sich die Neuigkeit rasend schnell.

Orbáns Feldzug

Zwei Universitäten in Ungarn bieten Geschlechterstudien an: Die Central-European University (CEU) startete im Jahr 2006 als erste, es wird auf Englisch unterrichtet, und am Ende bekommen die Studierenden ein amerikanisches und ein ungarisches Diplom. 139 Studierende haben dort bereits ihren Abschluss gemacht. Im schicken neuen Campus der Universität kann man auch promovieren.

Kritik und Hetze ist man dort gewohnt: Gegründet wurde die Uni vom ungarnstämmigen Milliardär George Soros und ist seit Jahrzehnten Hassobjekt der ungarischen Rechten. Orbán versucht seit zwei Jahren, die Uni aus dem Budapester Regierungsviertel zu verjagen.

Geschlechter seien biologischer Natur und keine gesellschaftlichen Konstrukte, deswegen gebe es über sie nichts zu lehren, sagt der Kanzleramtschef

Dennoch: Weil die CEU eine private Uni ist, wird sie Gender Studies wohl trotz Verbot weiter lehren können. Allerdings wird sie das in der Europäischen Union anerkannte ungarische Diplom nicht mehr vergeben können und vom Erasmus-Programm ausgeschlossen werden.

Die Eötvös Lóránd Tudományegyetem (ELTE) trifft das Verbot härter. Es ist die größte Universität des Landes, Orbán hat hier Jura studiert. Erst vor zwei Jahren bekam sie die Akkreditierung für den ersten Studiengang Gender Studies in ungarischer Sprache.

„Keine Nachfrage“

Zehn Studenten und Studentinnen haben vor einem Jahr ihr Studium angefangen, dieses Jahr kommen zehn weitere hinzu. Aber danach wird wohl Schluss sein. Das Kabinett darf die Akkreditierung des Faches entziehen und die Gender Studies an dieser Uni verbieten.

Mittlerweile hat die Regierung ihre Entscheidung auch begründet. Der junge Kanzleramtschef Gergely Gulyás sagte gerade mit dem Charme eines Steuerbeamten, für Menschen mit einem solchen Abschluss gebe es keine Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt.

Viele Studierende halten das für eine Lüge. Die ersten Studenten der ELTE bekommen ihr Diplom erst in einigen Jahren, Zahlen liegen also noch nicht vor. Die Erfahrungen der privaten CEU zeigen aber: Die Nachfrage nach Gender Studies in Ungarn ist groß.

Die Absolventen kamen aus aller Welt, viele von ihnen arbeiten mittlerweile als Gleichstellungsbeauftrage in großen multinationalen Firmen oder sind Wissenschaftler geworden.

„Angriff auf akademische Unabhängigkeit“

Für die ungarische Regierung sind diese Erfahrungen aber auch nicht wirklich wichtig: Man müsse keine besondere Begründung hervorbringen, sagte Kanzleramtschef Gergely Gulyás weiter. Es sei eine politische Entscheidung. Die ungarische Regierungspartei sei überzeugt, Geschlechter seien biologischer Natur und keine gesellschaftlichen Konstrukte, deswegen dürfe man über sie nicht reden oder lehren.

Andrea Pető ist Professorin an der CEU und das bekannteste Gesicht der ungarischen Geschlechterforschung. Die 54-Jährige versucht derzeit alles, um dem Verbot zu trotzen. Der Angriff auf ihre Fakultät sei ein Versuch, die akademischen Unabhängigkeit in ganz Europa zu vernichten, schreibt sie auf taz-Nachfrage.

Gender Studies seien überall auf dem Kontinent ein Angriffsziel der populistischen Parteien. Pető ist sich sicher: Dahinter steckt der Plan, das Wissen im Land zu kontrollieren.

Für Petős Studentinnen hat die Kampagne von Orbán auch Auswirkungen im Alltag. Sie sei schon bespuckt worden, als sie sagte, dass sie Geschlechterforschung studiere, erzählt eine Frau, die aus Angst ihren Namen nicht nennen möchte. Sie beginne bald, an der CEU zu promovieren, traue sich aber derzeit nicht, mit ihren Kinder nach Budapest umzuziehen.

Arme weiße Männer

Die meisten Ungarn, sagt die Frau, wüssten kaum etwas über Geschlechterforschung. Die ungarische Regierung verbreite mit öffentlichen Statements und Flugblättern bewusst Falschinformationen und bereite so den Weg zu Frauenfeindlichkeit und Homophobie.

Das nimmt absurde Züge an. Das Schmutzportal www.888.hu, das von dem ehemaligen Orbán-Berater Gábor G. Fodor geleitet wird, hat gerade ein neues Ressort gestartet: „Der Weiße Mann“ beschäftigt sich mit der „kulturellen Ausgrenzung und der bewussten Erniedrigung“ der weißen, heterosexuellen Männer mit christlichem Glauben. So hat die Redaktion es verkündet.

Dabei sieht es in den mächtigen Positionen des Landes überhaupt nicht nach Männer-Verdrängung aus. Eine einzige Frau sitzt in Orbáns neuem Kabinett. In der vorherigen Legislaturperiode, 2014 bis 2018, gab es gar keine. Der Anteil von Frauen im Parlament liegt bei unter 12 Prozent, in der Regierungspartei, die immerhin zwei Drittel der Mandate stellt, liegt er sogar nur bei 8 Prozent.

In der neuesten Studie zur Repräsentanz von Frauen in der Politik des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen liegt Ungarn damit auf dem vorletzten Platz. Gefragt, warum es in Parlament und Regierung kaum Frauen gebe, sagte Orbán einmal, die ungarische Politik sei von Charaktermorden geprägt und Frauen könnten so eine Atmosphäre nicht verdauen. Übrigens befasse er sich nicht mit „Frauensachen“.

Unterdrückung erhalten

Deswegen glaubt die ungarische Frauenrechtlerin Rita Antoni, dass die Regierung Angst hat, dass die Ungarn irgendwann anfangen, die Vorherrschaft von Männern infrage zu stellen. Antoni ist eine der wenigen Frauen, die sich traut, den Kampf gegen die ungarische Männerwelt aufzunehmen.

Die Gender Studies würden nun verboten, sagt sie, um den öffentlichen Diskurs über Geschlechterrollen zu ersticken. Absurd sei: Die Wissenschaft könnte helfen, die ersehnte demografische Wende in Ungarn zu erreichen. Aber dieses Ziel opfere die Regierung, um die Unterdrückung der Frau aufrechtzuerhalten.

Ungarn ist tatsächlich eines der kinderärmsten Länder Europas. Die Regierung versucht schon länger, die Ungarn zu animieren, wieder mehr Nachwuchs zu bekommen. Durch Frauenförderung tut sie sich damit allerdings nicht hervor. Das Parlament weigert sich bislang, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu ratifizieren.

Eine Stunde Feminismus

Immer wieder benutze sie solche Lügen, wie jetzt gegen Geschlechterstudien, sagt Rita Antoni. Die Regierung behaupte zum Beispiel, es gebe den Plan von liberalen Kräften, Kleinkinder in der Kita zu Homosexualität zu erziehen und die traditionelle Familie zu zerstören. Diese Verschwörung gelte es abzuwenden. Antoni fürchtet, dass die Orbán-Regierung als nächstes versuchen könnte, Schwangerschaftsabbrüche zu erschweren.

Dass sich die ungarische Regierung mit ihrer Härte dennoch nicht endgültig durchsetzen könnte, zeigt ein Aufruf von Csaba Tóth, der an der ELTE Politikwissenschaften unterrichtet. Er schlug seinen Kollegen vor, vom nächsten Semester an in jeder normalen Vorlesung eine Lehrstunde auch der feministischen Perspektive zu widmen.

So würde darüber in allen Wissenschaftsbereichen geredet. Tóth schreibt, dadurch könnte man viel mehr StudentInnen mit dem wichtigen Aspekt der Gleichstellung bekanntmachen, als es den Ideologen der Regierung lieb sein könne.

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war stellvertretender Chefredakteur der ungarischen Tageszeitung Népszabadság, die 2016 eingestellt wurde.

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